Die Camp Sensibility – Teil 1

Diva Ex Machina

Julia Pennauer, 4.6.2024
Schwerpunkt Camp

Die neue Reihe Die Camp Sensibility setzt die Begriffs- und Diskursgeschichte von Camp bis in die 60er Jahre fort. In der zweiten Hälfte des 21 Jahrhunderts wird „Camp“ vor allem ein Rezeptions- aber auch Gestaltungsmodus im Umgang mit kulturindustriellen Produkten, Stars und Designs aus Pop- und Alltagskultur. In diesem Kontext formuliert Susan Sontag „Camp“ erstmals als „Erfahrungsweise“. Im ersten Teil der Reihe geht es um einen Marlene Dietrich Darsteller und der Resonanz der Fimdiva in queeren US-Avantgarden.

In den vorangegangen Camp Stories wurde Camp als Konglomerat aus homosexuell kodierten Posen, Drag und gender-nonkonformen Performance Praxen früher queerer Subkulturen vorgestellt. Diese „historische“ Konzeption von Camp wird nie verschwinden und zeigt bis heute durchaus eine Kontinuität. Doch um die Mitte des 20. Jahrhunderts kommt eine weitere Bedeutung von „campy“ hinzu. Sie erfasst unter anderem kulturelle Objekte, die an konventionellen Produktionsstandards scheitern: misslungenes Schauspiel, überspitzte Details, stilistische und charakterliche Eigenheiten, ungeplante Produktionsspuren. „Campy“ beschreibt außerdem auch kulturelle Objekte die durch Geschichte eher komisch statt kanonisch geworden sind. Eigenheiten und Inkongruenzen dieser Art werden in Camp-Rezeptionsakten herausgearbeitet, aus denen wiederum eigene Kreation und Werke entstehen können. Sie werden Sinnbilder verdrängter Inhalte und aus der „normalen“ Kulturproduktion ausgeschlossener Fantasien, Erfahrungen, und marginalisierter Lebensweisen.

Isherwood vs. Dietrich Boy.

Der gute Camp sei nicht geplant sondern „innocent“ und passiere unwillkürlich. Dies ist wohl eines der widersprüchlichsten und kontroversielleren Statements in Susan Sontags „Notes On Camp“. Vielleicht wollte Sontag den zärtlichen Camp-Blick auf Objekte, die an kulturindustriellen Standards scheitern, von einem kalkulierten ironischen Chic abgrenzen. Vielleicht wollte sie Camp von einem Verständnis erretten, zu dem Sie selber beitrug, als sie meinte, Camp sei distanziert und unpolitisch (und Homosexuelle Camps quasi-zufällige Pioniere). Doch bei der Trennung in unwillkürliche Camp-Objekte und eine bewusste, reflektierende Rezeption schuf diese nicht nur eine Dualität, die den Facetten vieler Camp-Phänomene nicht gerecht wird. Sie bagatellisiert auch all die in den vorangegangenen Texten beschriebenen LGBTQ Traditionen die unter camping zusammengefasst werden können. Damit war Sontag nicht die erste —

“A swishy little boy […] pretending to be Marlene Dietrich? Yes, in queer circles, they call that camping. It’s all very well in its place but it’s an utterly debased form.”

Christopher Isherwood: The World in The Evening (1954)

In seinem semi-autobiografischen Roman The World in The Evening (1954), der zur Zeit des zweiten Weltkriegs spielt, schuf Christopher Isherwood 1954 eine merkwürdige Hierarchisierung zwischen High und Low Camp. In einer Unterhaltung zwischen zwei Männern wird das camping des queeren Nachtlebens als „Low Camp“ klassifiziert:

„In any of your voyages au bout de la nuit, did you ever run across the word camp?”

“I’ve heard people use it in bars. But I thought —?”

“You thought it meant a swishy little boy with peroxided hair, dressed in a picture hat and a feather boa, pretending to be Marlene Dietrich? Yes, in queer circles, they call that camping. It’s all very well in its place but it’s an utterly debased form.”

Isherwood (1954)

Der Junge mit dem gebleichten Haar, der sich hier als Marlene Dietrich gibt, praktiziere also die „minderwertige“ Form von Camp. Wie schon Susan Sontag sich Camp mit einer Aufzählung von Gegenständen anzunähern versucht (La Lupe, Tiffany Lampen, Flash Gordon comics, u.a.), hat Isherwoods eine noch viel erratischere Liste für seinen vermeintlichen High Camp Kanon, den er campen Vergnügungen des queeren Nachtlebens entgegensetzt: Baroque Art, Ballett, Mozart, Freud, Dostojewski.
Der hohe Camp hätte eine „unterschwellige Ernsthaftigkeit“. Man drücke etwas, was einem eigentlich wichtig scheint, durch verspielte Künstlichkeit und „Fun“aus. Doch warum soll diese Beschreibung nicht auch auf den „swishy“ (deutsch: tuntigen) Dietrich-Jungen zutreffen? Das Isherwoods Text dessen Performance so „niedrig“ bewertet, birgt eine gewisse Ironie in sich. Immerhin ist sein Name heute vor allem durch Cabaret, der Musicalfilm Version seines 1935 erschienen Romans über das untergehende Berlin vor dem Nationalsozialismus, geläufig. Liza Minellis reichlich „dick aufgetragene“ Perfomance als kapriziöse Sally Bowles in diesem Film inspirierte eine Reihe von Performances, die der des „swishy“ Dietrich Boys recht ähnlich sind. Der Dietrich Impersonator und Aficionado ist im Kontext dieser Camp Geschichtsreihe aber vor allem aus einem anderen Grund eine geeignete zentrale Denkfigur: Er stellt so etwas wie ein Verbindungsglied her: Zwischen dem alten Camp der „effeminate subculture“ wie sie zum Beispiel in den Mollyhäusern (siehe dazu Camp Stories Teil 2) praktiziert wurde und einem neuen Camp des 21. Jahrhunderts.
Dieser neue Camp zeigt ein großes Interesse an Leinwandstars, Celebrity Culture und Filmdiven, wie sich an den queeren Avantgarden die Flitter Journal im Laufe dieser Reihe vorgestellt, zeigen wird.   
Aber zunächst wollen wir die – laut Isherwood „debased“ – Form von „Camp“, die der Diven-Verehrung und Impersonation so viel Platz einräumt, näher ergründen.

Apropos Dietrich

(c) Universum Film AG (UFA), Paramount Pictures

Marlene Dietrich in „Der Blaue Engel“ (1930).

Der exemplarische Dietrich Drag Imitator mit der Federboa mag für Isherwood eine „niedere“ Form von Camp darstellen, doch die Figurenwahl ist sehr interessant.
Die androgyne Diva, Hosenrollen-Darstellerin und überzeugte Anti-Faschistin, hatte sich zu der Zeit, als Isherwood seinen Text verfasste, nicht nur als ein mit Weimar Deutschland assoziiertes Anti-Nazi Symbol etabliert. Sie stand auch für eine gewisse divenhaft campe Self-Awareness. In einer Radiosendung namens The Big Show performt sie 1951 gemeinsam mit Tallulah Bankhead einen Sketch.
In diesem sehr komischen und selbstironischen Schlagabtausch reflektieren Dietrich und Bankhead ihre eigenen Images, weibliche Film-Klischees und die harschen Anforderungen an weibliche Schauspielerinnen „jung zu bleiben“ bzw. den verzweifelten Versuch vorzugeben, es zu sein:
M. Dietrich: “One year on her birthday I turned around and there was my daughter three years older than I am!”
Beide Frauen sind Camp-Ikonen, bisexuell und wirken in Abschnitten ihrer Filmkarrieren als würden sie sich selbst und ihre persönlichen schauspielerischen Schrullen imitieren. Die exzentrische Theaterschauspielerin Tallulah Bankhead ist heute vor allem für ihre Rolle in Hitchcocks Lifeboat (1944) bekannt, wo sie mit ihrem Lachen zahlreiche spätere weibliche Disney Villains inspirierte.
Im gemeinsamen Radio-Sketch singt Dietrich ihre alte vampy Femme Fatale Nummer „I can’t help it“ (deutsch: „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“) aus Der Blaue Engel in üblich monotoner Stimme. Anschließend meint sie zu Tallulah Bankhead:
M. Dietrich.: „You know, men have killed themselves after hearing me sing!“
T. Bankhead.: „I’m sure, darling! I died a little myself.“
Tallulah Bankhead und Marlene Dietrich sind sich der Eigenheiten ihrer Images und Rezeption bewusst und thematisieren diese auf eine campy Weise.

Quelle: Unbekannt.

Marlene und Tallulah in den 50er Jahren bei einer Party.

In der campy Film-Diva kollabieren Image, Privatperson und Film Rolle. Sie ist öffentlich und medial besonders exponiert und macht dies auch zum Gegenstand. Sie illustriert, dass bei Camp das Verhältnis zwischen Intention und Unwillkürlichem, zwischen Selbst-Darstellung und dem Verwiesensein auf Rezeption und Erwartungen anderer oft nicht trennbar sind.

Diva Debased

Die Figur der Diva, hieß es einmal, sei ein „Unfall im Starsystem“ 1. In der Konstruktion ihrer Persona kollabieren privates und öffentliches Leben bzw. sind stark aufeinander verwiesen. Ihre Virtuosität verhält sich außerdem eigensinnig. Sie über- oder unterbietet regelmäßig konventionelle Produktionsstandards. Versehrt, zerbrechlich und vergöttlicht zugleich steht sie sowohl für äußerste Artifizialität als auch Authentizität.
Die Diva steht im Rampenlicht –  eine stark exponierte artifizielle Femininität, eine aufgeblasene Präsenz. Sie glänzt und strahlt für sich als singulare Erscheinung, ist den üblichen reproduktiv-heterosexuellen Gefügen und Narrativen enthoben.

Die Diva verhält sich überraschend. „Diva“ wurde und wird mitunter auch als synonym für „schwierige“ Frauen eingesetzt, wobei es für diese Kategorisierung nicht viel braucht, denn „schwierig“ kann auch bedeuten, nicht mit allem kooperieren zu wollen (oder einfach die gleiche Gage wie männliche Kollegen zu verlangen, wie einst im Fall der Musicaldiva Patti LuPone). „Diva“ kann auch heißen, Entscheidungen treffen zu dürfen, die den meisten Frauen und marginalisierten Personen verwehrt bleiben.

Die Diva ist auch eine Person die ihr Image bewusst gestalten und manipulieren will. Sie gilt als eitel, weil sie in die Rezeption ihrer Persona eigreifen möchte und als rührend, weil dieses Projekt meist scheitert.  Die Diva steht traditionell außerhalb der üblichen Dualität von unschuldsvoller Jungfrau/Mutter vs. korrumpierte Femme Fatale.

Campy Diven stellen ihre Arbeit/Labour am eigenen Image oft bewusst aus, und somit auch die Klischees, Erwartungen und Anforderungen die an sie herangetragen werden (siehe z.B. oben Tallulah Bankhead und Marlene Dietrich). Doch egal, ob sich Diven intendiert oder unbewusst über ihr (gegendertes, materielles) Leben mitteilen, sie gehören zu den beliebtesten Gegenständen der Camp Verehrung und Zelebration. Die fürs Diva-Image typische Implosion von Rollen, Mystifizierung und Privatperson stößt in der queeren Camp Kultur auf eine besondere Resonanz. Denn hier wurde die kulturelle Praxis des „Celebrity Gossip“ schon früh produktiv mobilisiert: als Verständigung über Rollen(-klischees) vs. privaten Begehren, und die sozialen Imperative die beide durchdringen. Zur Ent- und Re-Mythifizierung von Star Personä, sympathisierender Identifikation, oder materialistischer Kritik an konventionellen Narrativen und professionellen Anforderungen.
Der patriarchale Ausspruch „gossip dies when it hits a wiseman’s (!) ear” ignoriert ja, dass Klatsch/Trasch, insbesondere Frauen, oft zur sozialen Orientierung, Ergründung möglicher Motivationen und Hintergründe bis zu Fragen der persönlichen Sicherheit dient. Tratsch hat eine wichtige soziale Funktion. Anders als der sexistische und  skandalisierende, diffamierende Klatsch der historischen „Regenbogenpresse“, hatte der anteilnehmende Klatsch über Diven und Stars insbesondere in Gay Culture oft eine gemeinschaftsbildene Bedeutung. Es scheint daher auch passend, dass es nicht nur in der Subkultur, sondern auch im Feld der Filmkritik und Theorie vornehmlich Homosexuelle waren, die den schmuddelig konnotierten Celebrity Gossip2 zu einem Analyseinstrument erhoben. So etwa 1947 der Filmkritiker Parker Tyler mit Magic and Myth in the Movies, in Ansätzen Kenneth Anger mit Hollywood Babylon (1959) oder Jahrzehnte später Richard Dyer mit Heavenly Bodies. Film Stars and Society (1986), einem Gründungstext der „Star Studies“-Disziplin.

Norma Desmond

„I am big. It’s the pictures that got small!”

Norma Desmond in Sunset Boulevard
Gloria Swanson in Sunset Boulevard (1950). Foto: Paramount Pictures.

In Billy Wilders Film Noir/Komödie-Mix Sunset Boulevard (1950) macht das Hollywood Kino sich selbst und die eigene Geschichte zum Gegenstand. Die ehemalige Stummfilmdiva Gloria Swanson feiert darin ihr Comeback in der Rolle der Norma Desmond – einer ehemaligen Stummfilm-Diva, die ihr Comeback plant. Dies ist ein Gründungsmoment des „Hagsploitation“- Genres, zu dem auch „Whatever happened to Baby Jane?“ zählt. Zu diesem Genre gehören anachronistische weibliche Maskeraden und Frauen mit „überwältigender“ Präsenz. Oft haben diese vergessenen Diven einen Schauspielstil, der nicht aktuellen Sehgewohnheiten entspricht und somit als „artifiziell“ lesbar ist. Das Genre zentriert ältere, „unnatürliche“ Frauen, die aus kapitalistischen und heterosexuellen Wert- und Verwertungslogiken und der Illusionsmaschine herausgefallen sind.
Es kann gar nicht genug betont werden, was für einen enormen Anklang Gloria Swansons „unheimlich“ widerkehrende, aus der Zeit gefallene Stummfilmdiva in ganz unterschiedlichen LGBTQ Milieus fand.
Charles Ludlam, Mitbegründer der einflussreichen Ridiculous Theatrical Company, meinte als Schauspieler und Künstler nie eine Stimme gefunden zu haben, bis er 1966 zum ersten Mal in einer Produktion von Ronald Tavel in die Rolle der Norma Desmond geschlüpft ist.
In der 1990 Dokumentation über New Yorks Voguing Szene „Paris is Burning“, wendet sich die legendäre Drag Queen Pepper La Beija eindrucksvoll direkt an Jenny Livingstons oft für ihren ethnographischen Blick kritisierte Kamera. Mit einem Zitat der wahnhaften Diva Desmond meint sie: “I’m ready for my Close Up, Mr. DeMille!”

Friends of Dorothy

Die Diva ist seit langem eine wichtige Identifikationsfigur in der LGBTQ Kultur. Ob Mythos oder Wahrheit! –  Dem Begräbnis der Schwulen-Ikone und -Freundin Judy Garland 1969 wurde so eine große Mobilisierungskraft nachgesagt, dass diese Versammlung im öffentlichen Raum später in die Stonewall Riots übergegangen sein soll. Judy Garland wurde durch ihre Rolle als Kinderstar in der Technicolor-Parallelwelt von The Wizard of Oz und der Mischung aus Fragilität und Resilienz, mit der sie mit dem System Hollywood kämpfte, zur Queer Culture-Ikone. Während Garlands Name heute noch geläufig ist und Gloria Swansons Meta-Performance einer untergehenden Diva (siehe oben) in den Camp Kanon eigegangen ist, ist Maria Montez heute weit weniger bekannt. Dabei war die Frage „Magst du Maria Montez?“ einst angeblich ein ähnlicher gay code wie die Selbst-Preisgabe als „friend of Dorothy“ (angelehnt an Judy Garlands Rolle der Dorothy in The Wizard of Oz).

Die aus der Dominikanischen Republik stammende und 1951 jung verstorbene Maria Montez galt einst als „Queen of Technicolor“.  Montez wurde in den 40er Jahren durch ihre Rollen in exotistischen, billigen B-Movies und Fantasy-Kostümfilmen bekannt aber von der Kritik regelmäßig als schlechteste Schauspielerin verrissen.

In den künstlerischen Camp-Avantgarden, die uns über die nächsten Teile dieser Reihe begleiten werden, hat Montez gleich zwei prominente Fans. Zum einen hat Drag Queen und Warhol Superstar Mario Montez – eine zentrale Figur queerer New Yorker Kunstmilieus der 60er Jahre – sich nach ihr benannt. Zum anderen widmete der vielleicht berühmteste Maria Montez Fan, der Künstler Jack Smith, ihr 1962 seinen Text „The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez”. In diesem Text artikulierte der enorm einflussreiche queere Underground Filmemacher einige Überlegungen, die mit dem korrespondieren, was sich heute als Camp oder Trash Ästhetik artikuliert. „Trash is the material of creators” heißt es darin manifestartig. (Trash heißt übrigens auch eine Andy Warhol/Paul Morrisey Film-Kollaboration mit Mario Montez Kollegin, der wundervollen, ebenfalls puerto-ricanischen Drag Queen Holly Woodlawn.) Smith preist in seinem Text die Widerständigkeit und glamouröse Vision im „scheußlichen Schauspiel“ von Maria Montez.

Bezeichnenderweise spielten sowohl Jack Smith als auch Mario Montez später in Andy Warhols Film „Camp“ (1965) mit. Mehr zu den queeren New Yorker Avantgarden der 60er Jahre, ihrer Produktivmachung von schlechtem Schauspiel und ihrem Verhältnis zu Susan Sontags Notes On Camp folgt in den nächsten Teilen der Die Camp Sensibility Serie.

Literatur:

1 Barbara Straumann und Elisabeth Bronfen: „Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung. Celebrity Culture im 20. Jahrhundert.“ 2002.

2 Siehe hierzu auch: Marc Siegel: „Jack Smith Glauben schenken“ In: Golden Years: Materialien und Positionen zu queerer Subkultur

und Avantgarde zwischen 1959 und 1974 (2006)

Isherwood, Christopher: The World in The Evening (1954).

Smith, Jack: „The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez“ In:  Film Culture, Winter 1962/63