Der zweite Teil der Camp Stories endete mit den laut US Staatsanwaltschaft „unausprechlichen Verbrechen“ der Queen of Drags William Dorsey Swann. „The love that dare not speak its name” wird uns nun auch im dritten und letzten Teil beschäftigen. Wir beginnen mit den dandyistischen Posen Oscar Wildes und marschieren durch das Nachtleben der „theatrical types“ bis zum Stonewall Inn.
Während die meisten bisher besprochenen Camp Praktiken im Untergrund stattfanden, war Oscar Wilde (1854-1900) einer der meist gefeierten und berühmtesten Autoren und Dramatiker im spätviktorianischen London. Für seinen Witz, seine Selbstinszenierung und seine rhetorische Schlagkraft gilt er noch heute als prototypischer Dandy-Ästhet. Seine Extravaganz, seine Fähigkeit zur moralischen Veruneindeutigung trafen während der Abkehr von viktorianischen Werten zum Fin de Siècle einen Nerv. Wilde legte die Bigotterie und Maskeraden der Upper Class offen und wurde von eben dieser dafür gefeiert. Dass die Double Entendres, Posen und Allüren, über die man sich so köstlich amüsierte, auch ästhetische Praktiken des Closets waren, blieb den meisten verborgen…
Die dandyistische Idee, ästhetische Artifizialität in persönliche Lebensgestaltung und Selbstinszenierung einfließen zu lassen, schien zu Wildes Zeiten radikal und chic. Dass hier vor allem unbewusste, artifiziell kulturelle Setzungen durch bewusste ästhetische Entscheidungen ausgetauscht wurden, ist dabei ein wichtiger Aspekt im Nachleben des Wildean Styles. Dieser zeigt sich besonders, wenn er Natürlichkeit als „die nervigste Pose“ bezeichnet, oder, wie er einer Figur in The Ideal Husband in den Mund legt:
„To be natural is such a very difficult pose to keep up”
Oscar Wilde: An Ideal Husband
Obwohl Wilde den Begriff „camp“ selber nie verwendete, sind es Aussagen wie diese, die Susan Sontag dazu veranlasste, ihre einschlägigen Notes On Camp Oscar Wilde zu widmen und mit seinen Zitaten zu versehen – wie zum Beispiel dem Klassiker: „one should either be a work of art, or wear a work of art“.Auch dies trug dazu bei, dass sein Name so tief mit Camp verbunden bleibt. Wildes Dandyismus ist dabei vielleicht weniger „depolitized“ und „detached“ als Sontag Camp im Allgemeinen zugestehen mag. Wenn er „Natürlichkeit“ als enervierendste Pose bezeichnet, teilt er sich auch aus einer queer-marginalisierten Wissens-Perspektive mit.
Alla Nazimova in Salomé (1923)
Obwohl die Mehrheit nichts ahnte, war Oscar Wildes campy Stil unter urbanen Homosexuellen wohl durchaus als „sexuell deviant“ kodiert lesbar. Gewisse stilistische Elemente mögen wohl aus der Subkultur gekommen sein, auch wenn er ihnen zweifellos einen eigenen Charakter gab und er ihr berühmtestes Aushängeschild wurde. Unter eingeweihten homosexuellen Zeitgenoss_innen hatte er jedenfalls eine hohe Resonanz – und das nicht nur bei schwulen Männern. Seine campe, verschlingend-begehrende Salome war ein so beliebtes Motiv unter homo- und bisexuellen Frauen, dass von einer regelrechten „Salomania“ gesprochen wurde. Die lesbische kanadische Tänzerin Maud Allan wurde für ihre Salome Interpretation 1906 bezichtigt, dem „cult of clitoris“ anzugehören. 1923 produzierte Alla Nazimova eine Verfilmung von Wildes Salome (siehe Bild), in der sie auch die Hauptrolle übernahm. An der Herstellung des Stummfilms waren bekanntlich nur Homo- und Bisexuelle beteiligt. Das erstaunliche Set Design von Natascha Rambova war lose von Aubrey Beardsleys Salome-Illustrationen für Wilde inspiriert. Beardsley, der dem Kreis des Yellow Book verbunden war, ist Aushängeschild des – sicher auch von orientalisierenden Projektionen geprägten – Decadence-Stils. Ähnlich wie bei Wilde haben auch Stilelemente von Beardley einen langen Nachhall in queerer Kunst. Typisch für seine Werke sind Menschen und Kreaturen, die sich in Girlanden verbinden und oder in Ornamenten auflösen.
Im Fin de Siècle war es mit dem Wildeschen Camp Craze schnell vorbei, sobald das Geheimnis seiner Sexualität offengelegt war. Wie die meisten der hier beschriebenen Geschichten endet auch diese mit einer Verhaftung. Wilde wurde wegen „gross indecency“ zu zwei Jahren harter Strafarbeit verurteilt. Von diesem jähen, drastischen Fall erholte er sich als Autor nicht mehr.
Heute hat er auch popkulturell einen festen Platz in der Genealogie camper Poser_innen. Er wurde zum Prototyp des theatrical types was neben the love that dare not speak its name noch so ein Euphemismus für Homos ist.
“He’s a disco-dancing, Oscar Wilde-reading, Streisand ticket-holding friend of Dorothy, know what I’m saying?”
Clueless, 1999
Der bisherige Abriss hat gezeigt, dass die queere Praxis des se camper dem Theatralen tief verbunden ist. Dass Theatrical Types einmal ein Euphemismus für unaussprechliche sexuelle Orientierungen und Identitäten war, scheint unter diesem Gesichtspunkt passend.
Die hohe Dichte von Homos in Theaterwelten hat sicher auch mit den größeren Freiräumen zu tun, die historisch in diesen gegeben waren. Campe Ausdrucksformen gedeihen in einem Spannungsfeld von Rampenlicht und geheimen Codes, sie „verstecken sich im Licht“1. Dieses Spannungsfeld mag als kleinster gemeinsamer Nenner für die „hochkulturellen“ Bühnen von Oscar Wilde und Sarah Bernard genauso existiert haben, wie für LGBTQ Perfomer_innen auf Wiener Volksbühnen [siehe dazu unten Josefine Schmer] oder in räudigeren Zirkuswelten. Innerhalb Letzter entwickelte sich ja die spätere queere Slang-Sprache Polari. Gerade für mehrfach Diskriminierte war aber das Performen oft einzige Möglichkeit, zumindest eine gewisse Art von Anerkennung, Autonomie und finanzieller und physischer Mobilität zu erlangen.
Subkulturen, wie die oben beschriebenen Mollies und jene um Mother Swann, zeigen aber noch einen anderen Aspekt des Theatralen: einen Möglichkeitsraum zur Verständigung von Rollen und deren Erneuerung, einen Ort der Selbst-Dramatisierung und des sich Ausstattens mit Signifikanten von erotischer und repräsentativer Macht: Se camper; to strut around like a drama king. Das Parodistische ist dabei nur ein möglicher Aspekt. Anders als geläufige dekonstruktivistische Zugänge suggerieren, geht es bei Camp nicht nur um das Theatrale als ein (parodistisches) Dekonstruieren von sozialen Rollen. Es geht, wie Matthias Haase betont, auch um Rollenspiel als eine transformierende Art von sozialem Leben.2
Josefine Schmer, um 1868, Fotograf_in: anonym © KHM- Museumsverband
„Vom Deckel des glänzenden Zylinderhutes bis zu den Lackstifletten war die Schmer der getreue Abklatsch des typischen „Hausherrnsohnerls“. (Koller, 1931)
Die „Herrendarstellerin“ Josefine Schmer (1841-1904) verkörperte unterschiedliche Männertypen, darunter auch den Wiener Fiaker. Da man in Wien gerne Ausnahmen macht, bekam die gendernonkonforme Josefine Schmer eine polizeiliche Sondergenehmigung, um auch außerhalb ihrer Auftritte „Herrenkleidung“ tragen zu dürfen. Zigarre rauchend sang sie oft „Liebeslieder an die Maderl“.
In Das Wiener Volkssängertum in alter und neuer Zeit schrieb Josef Koller 1931 über Schmer: „Es verdient bemerkt zu werden, dass sie im vorigen Jahrhundert die erste war, die männliche Gestalten aus den unteren Volksschichten lebensgetreu verkörperte und auf den verdorbenen Geschmack des Wirtshauspublikums günstig einwirkte“
Se camper mag am Hof von Versailles seinen begrifflichen Anfang nehmen. Doch zu Beginn des 20 Jahrhunderts ist Camp zu den Kings und Queens der Varietés, Vaudeville-Theater und Cabaret Bühnen abgewandert. Diese florieren in europäischen Großstädten wie Paris, Wien, Berlin, London. In New York blüht die queere Kultur der Harlem Renaissance, wo Gladys Bentley mit ihren Butch Performances strahlt und wo die von Langston Hughes festgehaltenen Drag Bälle stattfinden. Zeitgleich triumphiert im Greenwich Village der berühmte Crossdresser Bert Savoy mit schlüpfrigen Witzen und als Erfinder zahlreicher Catchphrases wie „You slay me!“. Die große Mae West wird sich bei ihrem Image später von ihm inspirieren lassen. Im Pariser Moulin Rouge tanzt in den 1920ern die Trapez-Drag Queen Barbette durch die Luft, die Jahre später genervt vom Set zu Billy Wilders Some Like It Hot davonstürmen wird. Dort, als Coach beschäftigt, scheiterte sie daran Jack Lemmon Drag Kultur näher zu bringen. Ebenfalls im Moulin Rouge führen Colette und ihre in „male drag“ gekleidete Partnerin einen lesbischen „egyptian dream“ auf.
In den Burlesque-Experimenten von Lydia Thompsons British Blondes oder Eva Tanguay gedeiht unterdessen so etwas wie eine proto-popfeministische Camp Ästhetik.
Exotismus, Slumming und Minstrelsy sind mit diesen Bühnenwelten genauso intrinsisch verwoben wie deren Subversion und Veräppelung. Swanns Cake Walks und die blumig-adeligen Spitznamen der Mollies zeigen, dass Drag und Camp schon immer auch von Klassen- und rassifizierenden Thematiken durchzogen waren. Dies trifft auch auf die Bühnen des frühen 20. Jahrhundert zu, und zwar auf beide Seiten der Unterdrückung.
Um 1910 war Aida Overton Walker die „Queen of Cake Walk“ (auf den Cake Walk wurde bereits in Teil 2 bezuggenommen) und performte auch als Drag King. Sie teilte sich die Bühne oft mit Bert Williams, einem der berühmtesten schwarzen Bühnenstars. In dieser Zeit gehörte Minstrelsy zu den beliebtesten Unterhaltungsformen. Als eine Art schwarzer Blackface Performer hatte Bert Williams limitierte Möglichkeiten, die Zuschreibungen des weißen Publikums innerhalb dieses Rahmens zu unterwandern. Er subvertierte Blackface Konventionen aber musst sich diesen gleichzeitig doch auch bis zu einem gewissen Grad anpassen. (Man denke in diesem Zusammenhang auch an Josephine Baker, die rassistische US-amerikanische Performance-Konventionen mit ihrer künstlerischen Virtuosität so überformte, dass dies in Europa als modernistischer „Primitivismus“ missverstanden wurde.)
Camp und Drag Performances können in ihren jeweiligen Aufführungskontexten und historischen Gefügen unterschiedliche Funktionen erfüllen. Ob der parodistische Anteil von Camp Häme oder progressive Unterwanderung ist, ob Aneignung von oben oder unten kommt, ist nur von Fall zu Fall und manchmal auch gar nicht klar zu bestimmen. Ebenso lassen sich die (erotischen) Identitätsentwürfe historischer subkultureller Drag Praxen nicht ohne weiteres in zeitgenössische Verständnisse von „genderqueerness“ transferiere – zumindest nicht ohne einen unübersetzbaren Rest.
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Was jedenfalls im frühen 20 Jahrhundert noch als camping auf den Bühnen diverser europäischer Hauptstädte floriert haben mag, wurde in den 30ern vom Nationalsozialismus weitgehend gestoppt, während in den USA der „Pansy Craze“ zunehmend durch McCarthyismus und Zäsur „reguliert“ wurde.
Später wird camp in veränderter Bedeutung wieder zurückkehren und wird nun das ironische Erleben von historischen, pop- und alltagskulturellen Stilen, einer Erlebnisweise, von der Susan Sontag 1964 meinte, Homosexuelle seien ihre eher zufällige Speerspitze und „most articulate audience“.
Seit Sontags Veröffentlichung wird Camp immer wieder für Tod oder over erklärt. Die ostentativen Posen, die flüchtig-performativen Selbstentwürfe wären „von falscher Seite vereinnahmt worden“, oder camp insgesamt zu „Mainstream verkommen“ (meist ohne Mainstream oder verkommen näher zu definieren). Camp is dead because Madonna turned deviance into a theme park, hieß es 1993 in einem New Yorker Artikel. Donald Trump hijacked Camp verkündigte fast 20 Jahre später der Atlantic. Richard Dyer meinte wiederum schon 1977, dass Homosexuelle kulturell oft auf ähnliche Weise auf camp festgeschrieben werden würden, wie Afroamerikaner_innen auf soul3.
Die geschichtsträchtigen Stonewall Riots sind übrigens keine Bewegung, die aus den zeitgleich existierenden, konformistischeren Schwulen und Lesben -Bürgerrechtsinitiativen hervorging. Das Stonewall Inn war ein Rückzugsort für Drag Queens, Crossdresser, Butches, PoC-Transpersonen, street fairie und wohnungslosen LGBTQI Personen. Es geschah hier, dass nach einer weiteren Polizeirazzia in dieser langen Repressions- und Gewaltgeschichte, nach einer Polizeischikane zuviel, Protestierende wie Stormé DeLarverie und Marsha P. Johnson die ersten Ziegelsteine warfen.
1 Siehe auch „Hiding in the Light„
2 Haase Matthias: ‚Histories that are Written in the Night‘. In: Golden Years. Materialien und Positionen zu Queerer Subkultur und Avantgarde zwischen 1959 und 1974. Edition Camera Austria, 2006.
3 Dyer Richard: ‚It’s Being So Camp as Keeps Us Going‘. In: Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject – A Reader. Ed. Fabio Cleto. Edinburgh: UP, 2008.