Camp Stories – Teil 3
„Theatrical Types“

Zur Begriffs- und Diskursgeschichte von Camp

Julia Pennauer, 29.4.24.

Der zweite Teil der Camp Stories endete mit den laut US-Staatsanwaltschaft „unausprechlichen Verbrechen“ der Queen of Drags William Dorsey Swann. „The love that dare not speak its name” ist auch Gegenstand des dritten und letzten Teils. Er beginnt mit den dandyistischen Posen Oscar Wildes, schreitet durchs Nachtleben der „Theatrical Types“ und führt ins Stonewall Inn.

Wilde Posen

Während die meisten bisher besprochenen Camp Praktiken im Untergrund stattfanden, war Oscar Wilde (1854-1900) einer der meist gefeierten Autoren und Dramatiker im spätviktorianischen Großbritannien. Seine extravagante Selbstinszenierung und seine rhetorische Schlagkraft brachten ihm Ruhm als prototypischer Dandy-Ästhet. Sein Witz und seine Fähigkeit zur moralischen Veruneindeutigung trafen während der kulturellen Umbrüche des Fin de Siècle einen Nerv, da eine größere Öffentlichkeit sich von viktorianischen Werten abwandte. Wilde legte die Bigotterie und die Maskeraden der Upper Class offen und wurde von eben dieser dafür gefeiert. Dass die Double Entendres, Posen und Allüren, über die man sich so „köstlich“ amüsierte, auch ästhetische Praktiken des Closets waren, blieb den meisten verborgen…

Die dandyistische Idee, Kunst bzw. Künstlichkeit in die Selbstinszenierung und ästhetische Kriterien in die eigene Lebensgestaltung einfließen zu lassen, schien zu Wildes Zeiten radikal und chic. Das hier vor allem unbewusste kulturelle Setzungen und Gewohnheiten durch bewusste ästhetische Entscheidungen ausgetauscht wurden, ist die wahrlich revolutionäre und bis heute nachwirkende Idee des Wildean Stils. Zugespitzt bezeichnete Wilde „Natürlichkeit“ einmal als „die nervigste Pose“. An anderer Stelle ließ er eine Figur in The Ideal Husband behaupten:

„To be natural is such a very difficult pose to keep up”

Oscar Wilde: An Ideal Husband, 1895 

Obwohl Wilde den Begriff „camp“ selber nie verwendete, sind es Aussagen wie diese, die Susan Sontag dazu veranlassten, ihre einschlägigen Notes On Camp Oscar Wilde zu widmen und mit seinen Zitaten und Aphorismen zu versehen – wie zum Beispiel dem Klassiker: „One should either be a work of art, or wear a work of art“. Auch dies trug dazu bei, dass sein Name so tief mit Camp verbunden bleibt. Wildes Dandyismus ist dabei vielleicht weniger „depolitized“ und „detached“ als Sontag Camp Stil im Allgemeinen zugestehen mag. Wenn er „Natürlichkeit“ als enervierendste Pose bezeichnet, teilt er sich auch aus einer marginalisierten queeren Wissens-Perspektive mit und entzieht gleichzeitig zur „zweiten Natur“ geronnenen Konventionen den Boden.

Alla Nazimova in Salomé (1923)
Obwohl die Mehrheit nichts ahnte, war Oscar Wildes campy Stil unter urbanen Homosexuellen wohl durchaus als „sexuell deviant“-kodiert lesbar. Gewisse stilistische Elemente Wildes mögen wohl aus der Subkultur gekommen sein, auch wenn er diesen eine eigene Note verlieh und ihr berühmtestes Aushängeschild wurde. Unter eingeweihten homosexuellen Zeitgenoss_innen hatte er jedenfalls eine hohe Resonanz – und das nicht nur bei Männern. Seine risqué, verschlingend-begehrende Salome war ein so beliebtes Motiv unter homo- und bisexuellen Frauen, dass von einer regelrechten „Salomania“ gesprochen wurde. Die lesbische kanadische Tänzerin Maud Allan wurde für ihre Salome Interpretation 1906 bezichtigt, dem „cult of clitoris“ anzugehören. 1923 produzierte Alla Nazimova eine Verfilmung von Wildes Salome (siehe Bild), in der sie auch die Hauptrolle übernahm. An der Herstellung des Stummfilms waren angeblich nur Homo- und Bisexuelle beteiligt. Das erstaunliche Set Design von Natascha Rambova war lose von Aubrey Beardsleys Salome-Illustrationen für Wilde inspiriert. Beardsley, der dem Kreis des Yellow Book verbunden war, ist Aushängeschild des – sicher auch von orientalisierenden Projektionen geprägten – Decadence Stils.1 Ähnlich wie bei Wilde haben auch Stilelemente von Beardsley einen langen Nachhall in queerer Kunst. Typisch für seine Werke sind Figuren und Kreaturen, die sich in Girlanden verbinden oder Ornamenten auflösen.

Im Fin de Siècle war es mit dem Wilde Craze schnell wieder vorbei, sobald das Geheimnis von Oscar Wildes Sexualität (und damit indirekt vielleicht auch das Geheimnis des Camp Codes) offengelegt war. Wie die meisten der hier beschriebenen Geschichten endet auch diese mit einer Verhaftung. Wilde wurde wegen „gross indecency“ zu zwei Jahren harter Strafarbeit verurteilt. Von diesem jähen, drastischen Fall erholte er sich als Autor nicht mehr und starb verarmt.

Heute hat Oscar Wilde auch popkulturell einen festen Platz im Referenzsystem camper Poser_innen. Er wurde zum Prototyp des theatrical types, was neben the love that dare not speak its name noch so ein Euphemismus für Homos ist.

“He’s a disco-dancing, Oscar Wilde-reading, Streisand ticket-holding friend of Dorothy, know what I’m saying?”

 Clueless, 1999

Theatrical Types galore!

Die historischen Darstellungen der vorangegangenen Teile haben gezeigt, dass Camp stark mit theatralen Praxen verwoben ist. Dass „Theatrical Types“einmal ein Euphemismus für unaussprechliche sexuelle Orientierungen und Identitäten war, scheint unter diesem Gesichtspunkt passend.

Die hohe Dichte von LGBTQ Personen in Theaterwelten hat sicher auch mit den größeren Freiräumen zu tun, die historisch in Theatermilieus oft gegeben waren. Campe Ausdrucksformen gedeihen in einem Spannungsfeld von Rampenlicht und heimlichen Codes auffallend gut, sie „verstecken sich im Licht“1.Dies ist der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den „hochkulturellen“ Bühnen von Oscar Wilde und Sarah Bernard, den „Herren Darstellerinnen“ auf Wiener Volksbühnen [siehe dazu unten Josefine Schmer] oder den räudigeren Zirkuswelten. Innerhalb letzterer entwickelte sich ja die Geheimsprache Polari, die von Homosexuellen, Zirkusleuten und „Kriminellen“ gesprochen wurde. Gerade für mehrfach Diskriminierte war Performance, Tanz, Zur-Schau-Stellung oft die einzige Möglichkeit, zumindest eine gewisse Art von Autonomie, Sichtbarkeit und finanzieller und sonstiger Mobilität zu erlangen.

Die in den letzten Teilen beschriebenen Subkulturen, wie die Mollies und jene um Mother Swann, zeigen aber noch einen anderen Aspekt des Theatralen: einen Möglichkeitsraum sowohl für die Verständigung über soziale Rollen als auch Erneuerungen dieser. Zur campen Selbst-Dramatisierung gehört auch das Spiel mit Signifikanten ökonomischer, erotischer oder repräsentativer Macht; Se camperto strut around like a drama king. Das Parodistische oder die Subversion ist dabei nur ein möglicher Zugang. Es geht in der queer-campen Ästhetik nicht nur um die Dekonstruktion von sozialen Rollen, sondern auch um das Annehmen neuer Rollen, um auf andere Weise (sozial) zu sein. Oder, wie es bei Matthias Haase heißt: „Nicht >Existenz als Spiel einer Rolle< [dies ist ein Zitat aus Susan Sontags Notes On Camp, Anm. der Autorin], sondern das Spielen bestimmter Rollen als anderes Existieren.3

Josefine Schmer, um 1868, Quelle: anonym © KHM- Museumsverband
Vom Deckel des glänzenden Zylinderhutes bis zu den Lackstifletten war die Schmer der getreue Abklatsch des typischen „Hausherrnsohnerls4(Koller, 1931)
Die „Herrendarstellerin“ Josefine Schmer (1841-1904) verkörperte unterschiedliche Männertypen, darunter auch den Wiener Fiaker. Da man in Wien gerne Ausnahmen macht, bekam die gendernonkonforme Josefine Schmer eine polizeiliche Sondergenehmigung, um auch außerhalb ihrer Auftritte „Herrenkleidung“ tragen zu dürfen. Zigarre rauchend sang sie oft „Liebeslieder an die Maderl“.
In „Das Wiener Volkssängertum in alter und neuer Zeit“ schrieb Josef Koller 1931 über Schmer: „Es verdient bemerkt zu werden, dass sie im vorigen Jahrhundert die erste war, die männliche Gestalten aus den unteren Volksschichten lebensgetreu verkörperte und auf den verdorbenen Geschmack des Wirtshauspublikums günstig einwirkte

Se camper mag am Hof von Versailles seinen begrifflichen Anfang genommen haben. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Camp zu den Kings und Queens der Varietés, Vaudeville-Theater und Cabaret Bühnen abgewandert. Diese florieren in europäischen Großstädten wie Paris, Wien, Berlin, London. In Paris führen Colette und ihre „männlich“ gekleidete Partnerin 1907 einen lesbischen „egyptian dream“ auf. In New York erblüht in den 20er Jahren die Harlem Renaissance, wo Gladys Bentley mit ihren Butch Stil schillert und die von Langston Hughes literarisch dokumentierten Drag Bälle stattfinden. In Greenwich Village wird unterdessen der berühmte Crossdresser Bert Savoy mit schlüpfrigen Witzen und Catchphrases wie “You slay me!“ zur Sensation. Die große Mae West lässt sich von Savoys Scherzen und den proto-popfeministischen Burlesque-Experimenten Eva Tanguays und Lydia Thompsons inspirieren und trägt se camper bald nach Hollywood. Die Drag Queen Barbette, bürgerlich Vander Clyde, der Jean Cocteau einen Essay widmete, schwingt sich im Paris der 1920er Jahre als Trapez-Künstler/in durch die Lüfte und kommt sehr viel später als Mae West ebenfalls nach Hollywood. Barbette/Clyde wird als Coach für Jack Lemmon ans Set von Billy Wilders Some Like It Hot (1959) bestellt, das Clyde bald genervt wieder verlassen haben soll.

Slumming, Exotismus und Minstrelsy sind auf den Varieté Bühnen des frühen 20. Jahrhunderts weit verbreitet und schreiben sich auch in deren Camp Darstellungen ein, die eben diese Praxen sowohl reproduzieren (von oben) als auch unterwandern (von unten).
Schon die vorangegangen historischen Abrisse mit den adeligen Spitznamen der Working Class Mollies des 18. Jahrhunderts und den Cake Walks William Dorsey Swanns im 19. Jahrhundert – haben gezeigt, dass Class/Race Thematiken mit den Geschlechterdarstellungen Camps untrennbar verwoben sind. Um 1910 galt Vaudeville Performerin und Tänzerin Aida Overton Walker, die auch zeitweise Drag King war, als „Queen of Cake Walk“. Walkers Bühnenpartner Bert Williams war in einer Zeit als Minstrelsy/Blackface zu den populärsten Unterhaltungsformen gehörte, einer der berühmtesten schwarzen Stars seiner Zeit. Als eine Art schwarzer Blackface Performer hatte Williams limitierte Möglichkeiten, die Zuschreibungen des weißen Publikums innerhalb dieses Rahmens zu unterwandern und zu kommentieren. Er subvertierte Blackface Konventionen zwar, musste sich diesen gleichzeitig doch auch bis zu einem gewissen Grad anpassen. Ähnlich und doch anders komplex verlief die frühe Karriere Josephine Baker, deren Tänze ebenfalls oft zum Camp Performance Kanon des frühen 21. Jahrhunderts gezählt werden. Sie übernahm Elemente aus rassistischen US-Performancekonventionen und überformte diese mit solch einer enormen künstlerischen Virtuosität, sodass etwas Neues entstand – etwas das wiederum in Europa als modernistischer „Primitivismus“ missverstanden wurde.

Camp und Drag Performances können in ihren jeweiligen spezifischen Aufführungskontexten und historischen Gefügen unterschiedliche Funktionen erfüllen. Ob der parodistische Anteil von Camp Häme oder progressive Unterwanderung ist, ob Aneignung von oben oder unten, ist nur von Fall zu Fall und manchmal auch gar nicht klar zu bestimmen. Ebenso lassen sich die (erotischen) Identitätsentwürfe historischer subkultureller Drag Praxen nicht ohne weiteres in zeitgenössische Verständnisse von „Genderqueerness“ transferieren – zumindest nicht ohne einen unübersetzbaren Rest.

“The vanguard –and the most articulate audience”

Was jedenfalls im frühen 20. Jahrhundert noch als camping auf vielen Bühnen europäischer Großstädte florierte, wurde in den 30ern vom Nationalsozialismus weitgehend zerschmettert. Auch in den USA wurde der einstige „Pansy Craze“ zunehmend durch Zensur, Hays Code, und später McCarthyismus „reguliert“.

Später wird to camp als „Camp“ in veränderter Bedeutung als ironische „Erlebenisweise“ von allem, was „over-the-top“ ist wieder zurückkehren, insbesondere von antiquierten und besonders artifiziellen pop- und alltagskulturellen Stilen. Camp ist jetzt vor allem eine „Sensibility“, von der Susan Sontag 1964 sagt, Homosexuelle wären, eher zufällig, ihre Speerspitze und „most articulate audience“ gewesen.

Seit Sontags Notes On Camp vor 60 Jahren erschienen ist, wird Camp immer wieder für tot oder „over“ erklärt. Die ostentativen Posen, die flüchtig-performativen Selbstentwürfe wären „von falscher Seite vereinnahmt worden“, oder camp insgesamt zu „Mainstream verkommen“ („Mainstream“, „verkommen“ und „Camp“ bleiben bei derartigen Behauptungen meist eher vage). 1993 verkündete ein Artikel in The New Yorker: “Camp is dead thanks to Madonna” und weiter “Madonna has opened all the closets, turning deviance into a theme park”. 2019-20 erschienen mehrere Artikel, die die Befürchtung äußerten, Donald Trump hätte Camp ge-„hijacked“ (“Donald Trump’s Reelection Campaign Is Total Camp”-The Atlantic) und wäre “America’s first camp president” (The Washington Post). “Today camp has become malignant and sinister”, meinte Bruce LaBruce 2019 in einem Interview mit Collectible Dry Magazine.

Bereits in den 70er Jahren nach dem Boom des Begriffs gab es (ganz andere) Vorbehalte gegen Camp. Richard Dyer meinte 1977, dass Homosexuelle kulturell oft auf ähnliche essentialisierende Weise auf Camp festgeschrieben werden würden, wie Afroamerikaner_innen auf das Konzept „Soul“4. Und in einer 1978 Ausgabe von Gay Left reklamierte Andrew Britton: “Susan Sontag‘s remark that >homosexuals have pinned their integration into society on promoting< the camp sensibility seems to me exact and in its exactitude quite damning.”
Vor allem für jene, die für bürgerlich-angepasste Formen der Selbstermächtigung und Außendarstellung eintreten, verkörpert Camp eine unangenehme, schmutzige Erinnerung: „Effeminate“-Culture, „Bulldaggers“, queer-abjekte Selbst-Zuschreibungen, seien selbsthassende von sexistischen Stereotypen zehrende Praxen aus Zeit des „Closets“, bevor die Stonewall Rebellion einen Wendepunkt im Kampf um Gleichberechtigung und Sichtbarkeit brachte. Zu dieser Argumentationsweise meint Stonewall Zeitzeuge Thomas Lanigan-Schmidt (dessen Giltter-Müllskulpturen in dieser Ausgabe vertreten sind): „Gay stereotypes are what made it happen. The people who passed for straight hid and didn’t want to be active at the beginning. The straighter-acting people ran away.“

Die geschichtsträchtigen 1969 „Stonewall Riots“, sind übrigens keine Bewegung, die aus den zeitgleich existierenden, konformistischeren Schwulen und Lesben -Bürgerrechtsinitiativen hervorging. Nach einer Razzia lieferten sich Protestierende wie Stormé DeLarverie und Marsha P. Johnson tagelange Gefechte mit der Polizei aus denen die heutige Pride Parade hervorging. Das historische Stonewall Inn war ein Auffangort für wohnungslose „Street Fairies“, Butchdykes, Drag Queens, Trans Personen, „Crossdresser“ – viele von ihnen People of Colour. 
Es geschah hier, dass nach einer weiteren Polizeischikane in dieser langen Repressions- und Gewaltgeschichte jemand den ersten mythischen Ziegelstein warf. (Wobei Thomas Lanigan-Schmidt meint: „I don’t think there was a first brick; there was so much happening at once.“) 6

Literatur:

1 Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit Beardleys „Queer Orientalism“ siehe Shih, Paris: „A Tale of Two Japans: Oriental Queerness in Fin de Siècle Imaginations“. https://www.themorgan.org/blog, 1.2.2024.

2 Zur Expression „Hiding in the Light* siehe auch das gleichnamige Buch von Dick Hebdige (Routledge, 1988).

3 Haase Matthias: ‚Histories that are Written in the Night‘. In: Golden Years. Materialien und Positionen zu Queerer Subkultur und Avantgarde zwischen 1959 und 1974. Edition Camera Austria, 2006.

4 Das Hausherrnsöhnl ist ein österreichischer „Rich Kid“-Archetyp, der im Wiener Lied von zahlreichen Interpreten (Hans Moser, Helmut Qualtinger, André Heller, Georg Danzer) besungen wurde. Siehe beispielsweise -> YouTube Link

5 Dyer, Richard: „It’s Being So Camp as Keeps Us Going“. In: Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject – A Reader. Ed. Fabio Cleto. Edinburgh: UP, 2008.

6 Smith Nigel: “Gay rights activists give their verdict on Stonewall: ‚This film is no credit to the history it purports to portray”. The Guardian, 25.9.2015.

Schweitzer, Marlis: „Prostitution and Brothel Drama in the Progressive Era“ https://brotheldrama.lib.miamioh.edu/essay-salomania https://brotheldrama.lib.miamioh.edu/essay-salomania