Die Camp Sensibility – Teil 4
Bad Acting, Awkwardness, Leftovers.

Julia Pennauer, 27.1.25

Die aktuelle Schwerpunktreihe skizziert, wie sich Camp von einer queeren Performance-Praxis zu einer neuen popularen „Sensibility“ (S. Sontag) entwickelte.
Unwillkürlichkeit, Scheitern und produktive Verfehlungen spielen bei diesem Rezeptions- und Gestaltungsmodus eine große Rolle. Teil 4 ist daher dem Lob der „Bad Perfomances“ – unter anderen durch Jack Smith und Andy Warhol – gewidmet.
Durch die letzten beiden Teile der Camp Sensibility-Serie spukt außerdem das Phantom einer 40er Jahre Technicolor Diva, eine neue popkulturelle Lust auf Trash erwacht und „Camp“ wird von einem in Bars geflüsterten Idiom zum Theorie-Gegenstand.

Am Beginn dieser Reihe stand die Einführung der (Film-) Diva in das Camp Referenzrepertoire im frühen 20. Jahrhundert. Die Diva ist weder ganz Darstellerin noch Selbstdarstellerin1. Ihre paradoxe „authentische Artifizialität“ stellt eine Intervention in klassische Repräsentationssysteme dar. So lässt sie mitunter unsichtbare Darstellungskonventionen und Mediensysteme in Erscheinung treten. Exzess, sowie Unter- und Überbietung von Produktionsstandards sind Elemente, die die Figur Diva für die queere Camp-Rezeption so interessant machen. Der aktuelle Teil der Reihe sei dem Aspekt der „Unterbietung“ gewidmet!

Camp affine Subkulturen begannen früh, nach konventionellen Standards “gescheiterte” Darstellungen sowie eigenwillige stilistische „Verfehlungen“ aus Kunst und Medien für neue Perspektiven nutzbar zu machen. Insbesondere in der homogenen Massenmedienlandschaft zur Mitte des 20. Jahrhunderts eröffneten sich durch ungewollte Störungsmomente und Risse in der Narration Möglichkeitsräume für Identifikation und neue Erzählungen.
Unter diesem Gesichtspunkt mag es wenig überraschend sein, dass einer der frühesten Texte, in dem sich so etwas wie eine Camp-Sensibility artikuliert, einer B-Movie Darstellerin gewidmet ist, die einst im Verruf stand die schlechteste Schauspielerin Hollywoods zu sein.

Glamourous Rapture, Glittering Trash

Jack Smiths manifest-artiger Essay „The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez“ (1962), der spätere Camp und Trash Theorien antizipierte, wurde auf diesen Seiten bereits flüchtig erwähnt. Doch wer war eigentlich die heute wenig bekannte 40er Jahre Diva Maria Montez und worin bestand ihre von Smith beschworene „perfekte filmische Eignung“?

Cobra Woman, 1944. Universal Pictures.

Maria Montez wurde zur Zeit des zweiten Weltkriegs als Hauptdarstellerin in eskapistischen US Low Budget-Fantasy- und Abenteuerfilmen bekannt. Den Titel „Queen of Technicolor“ verdankt sie dem Herstellungsverfahren, das diesen Filmen ihre saturierten, kräftigen Farben verlieh. Ohne Scheu vor Stereotypen castete Hollywood die dominikanische Schauspielerin mit dem spanischen Akzent ausschließlich in exotistischen Streifen, die in einem ahistorischen, unspezifischen „Elsewhere“ angesiedelt sind. Die an Abenteuercartoons angelehnten Plots dieser Filme schleppen sich eher flach dahin. Insbesondere Cobra Woman (1944) zeichnet sich jedoch visuell durch eine sinnliche Opulenz aus, wie sie in westlichen Darstellungen aller Art häufig in einen imaginierten Global South projiziert werden.

Maria Montez in ihrem ikonischen Film Cobra Woman, wo sie eine Doppelrolle (Good Twin/Evil Twin) spielt. Geografisch weit auseinander liegende Referenzen werden hier wie austauschbare Variablen zu einem von Projektionen durchdrungenen „Exotic Punch“ verrührt.

Das Schauspiel von Maria Montez hebt sich mitunter auf eigensinnige Weise von den stumpfen Plots ab. Ihre Darbietung ist „akward“, merkwürdig, plump. Ein Beispiel dafür ist die berühmte Szene in Cobra Woman, wo sie hölzern die Zeile „Give me that cobra jewel!“(->YouTube Link) deklamiert. Manchmal agiert sie „zu wenig“ oder affektlos. An anderen Stellen ist ihr Spiel übermäßig energisch, frantic. So birgt eine Szene, wo sie als Schlangenpriesterin im Ritual beherzt mit den Armen in der Luft herumwirbelt, während ihre Untertan_innen in Massenpanik verfallen sollen, eine unfreiwillige Komik.

Maria Montez in Siren of Atlantis, 1949. United Artists.

Für ihr Schauspiel und privates Image wurde Montez von der Kritik verhöhnt. Doch, wie Susan Sontag über die Camp-Rezeption schreibt, “it relishes rather than judges, the little triumphs and awkward intensities of ‘character’”. Für Montez-Verehrer Jack Smith war es wohl überhaupt erst die „akward intesity“ von Montez Schauspiel, die den faden Plots Leben und Fantasie einhauchte:

„The vast machinery of a movie company worked overtime to make her vision into sets. They achieved only inept approximations. But one of her atrocious acting sighs suffused a thousand tons of dead plaster with imaginative life and truth.

Jack Smith.

The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez.

Erst durch das “scheußliche Schauspiel“, wie Smith es nennt, dringt eine andere Erzählung in die Filme ein und der tote Gips öffnet sich für widerständige Bedeutung.

„To admit of Maria Montez validities would be to turn on to moldiness, glamorous rapture, schizophrenic delight, hopeless naiveté, and glittering technicolored trash!”

Jack Smith. The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez

Maria Montez. 1912 – 1951

Trotz der offensichtlichen Mängel und stereotypen Plots der Filme, in denen sie wirkte, wurde Maria Montez, die sowohl privat als auch als Schauspielerin als exzentrisch galt, zur Identifikationsfigur für zahlreiche Marginalisierte, Migrant_innen, Homosexuelle. In der (sonst in den USA medial wenig repräsentierten) dominikanischen Republik galt sie vielen als Ikone.  Vor allem aber wurde sie von männlichen Homosexuellen gefeiert. Schon Jahrzehnte nach ihrem Tod huldigten ihr neben Jack Smith und Mario Montez auch Charles Ludlam und Gore Vidal in Werken.

Maria Montez verließ die dominikanische Republik in jungen Jahren und versuchte bald ohne einschlägige Kontakte in Hollywood Fuß zu fassen. Sie gilt als einer der frühen PR-bewussten Stars, da sie den Klatsch der Hollywoodpresse im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie für sich zu nutzen wussten. Dabei sah sich Montez bald mit der heuchlerischen Mischung aus moralischer Entrüstung und ausbeuterischem Sensationalismus konfrontieret, die die Medien weiblichen “Sex Symbolen“ entgegenbrachten Montez versuchte mit virtuosen Self Promotion Stunts, wie z.B durch einen Überraschungsauftritt bei einem elitären Freshman Dance in Harvard, das Interesse der Boulevardpresse zum eigenen Vorteil zu nutzen. Bald aber ermüdete sie an ihrem Image als „exotic Bombshell“ und litt unter dem eingeschränkten Rollen-und Genre-Angebot.
Es wäre vermessen, diese interessante Schauspielerin, die nach einer Selbstbestimmtheit innerhalb der Hollywood-Zurichtungsmaschine suchte, auf einen Camp Witz oder eine „moldy“ (J. Smith) Projektionsfläche zu reduzieren, zumal Jack Smiths Text auch nicht frei von problematischen Zuschreibungen ist.
Am Ende ihres Lebens kämpfte Maria Montez mit Universal um bessere Rollen und äußerte ihren Wunsch, nie mehr als „exotische Prinzessin“ gecastet zu werden. Anschließend ging sie nach Frankreich, wo sie den Wechsel zum Theater anstrebte. Dort führte 1951 wahrscheinlich eine exzessive Diät zu ihrem frühen Tod mit 39 Jahren.

Jack Smith schreibt in seinem kuriosen Text über Maria Montez zugespitzt:  Das Publikum, das in Maria Montez nur eine „schlechte Schauspielerin“ sieht, habe die Magie verpasst. Denn dieses Publikum würde nur eine Form als „gelungene Performance“ anerkennen – die Magie einer effizient operierenden Maschine; „a magic of sustained efficient operation (like the wonder that the car motor held out so well after a long trip).“

„Wretch actress, pathetic as actress, why insist upon her being an actress – why limit her?”

Jack Smith. The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez

Jack Smiths Unbehagen gegenüber „good performances“ oder „good perfs“ wie er es nannte, muss auch in Anbetracht der repressiven Medien- und Kulturlandschaft von 1962 verstanden werden. Einen ähnlichen Skeptizismus gegenüber damals gängigen Darstellungs- und Repräsentationsformen teilte auch Andy Warhol in diversen Texten und Tagebuch-Aufzeichnungen. Wie Smith fand auch Warhol die interessanteren, komplexeren ästhetischen Erfahrungen nicht in den konventionellen Endprodukten, die die Traumfabrik als „efficient machine“ hervorbrachte, sondern vielmehr in deren Neben- und Abfallprodukten; Screentests, Take Outs, und Leftovers.

Leftovers, Outtakes und Frauen, die nicht springen.

In der Textsammlung The Philosophy of Andy Warhol. From A to B and Back Again (1974) schrieb Warhol über die von Busby Berkeley choreografierten MGM Musical-Produktionen (->YouTube Link) mit Schauspielerin-Schwimmerin Esther Williams. Er spekulierte dabei über die möglichen Abfallprodukte dieser Filme. Man muss Zitat und warholschen Stil hier einfach in voller Gänze wiedergeben:

I always like to work on leftovers, doing the leftover things. Things that were discarded, that everybody knew were no good, I always thought had a great potential to be funny. When I see an old Esther Williams movie and a hundred girls are jumping off their swings, I think of what the auditions must have been like and about all the takes where maybe one girl didn’t have the nerve to jump when she was supposed to, and I think about her left over on the swing. So that take of the scene was a leftover on the editing-room floor—an outtake—and the girl was probably a leftover at that pointshe was probably fired— so the whole scene is much funnier than the real scene where everything went right, and the girl who didn’t jump is the star of the out-take.2

„The girl who didn’t jump is the star of the out-take”

Andy Warhol
Bathing Beauty, 1944. MGM.
Choreografie von Busby Berkeley aus Footlight Parade (1933).

Uniforme Frauenkörper, die sich perfekt synchronisiert zu fantastischen Massenornamenten verbinden sind typisch für den Stil des Hollywood Choreografen Busby Berkeley. Andy Warhol begeistert sich jedoch mehr für die verworfenen „Überbleibsel“ von Berkeleys akribischem Produktionsprozess.

An anderer Stelle in The Philosophy of Andy Warhol geht es um Drag Artist Jackie Curtis, die ihre Stücke jeden Abend nach Lust modifizierte. In diesem Zusammenhang preist Warhol die offenere Form launiger Amateur_innen gegenüber konsistenteren professionellen Darstellungen: “Every professional performer I’ve ever seen always does exactly the same thing at exactly the same moment in every show they do. They know when the audience is going to laugh and when it’s going to get really interested. […] What I like are things that are different every time. That’s why I like amateur performers and bad performers—you can never tell what they’ll do next.”

Natürlich stehen Warhol und Smith mit vielen der bisher hier festgehaltenen Beobachtungen tendenziell nicht alleine. Leicht ließen sich die Einwände gegen gängige Schauspiel- und Darstellungskonventionen sowohl in der Genealogie älterer Theateravantgarden des 21. Jahrhunderts, als auch in Verbindung zu zeitgleich stattfindenden Tanz- und Theaterexperimenten der 60er und der sich gerade etablierende Performance Art situieren. Hoch interessant und auch relativ einmalig ist jedoch, dass Smith, Warhol und andere Proto-Camp/Trash Artists produktive Irritationsmomente und überraschende Irregularität nicht als Alleinstellungsmerkmal der Kunstproduktion sahen. Auch verzichteten sie auf simplistisch kunstromantische Konzepte von „Unmittelbarkeit“ oder einem sich spontan ausdrückenden Genie. Viel mehr richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf die unbeabsichtigten Exzentrizitäten an den Rändern massenproduzierter kulturindustrieller Fantasien. Auch beschreiben sie subjektive Erlebnisweisen von Filmen und Stars, die zwar „deviant“ sind, jedoch von vielen geteilt werden.

Nun ließe sich argumentieren, dass in den Film-Attraktionen, die Warhol und Smith ab den 60ern beschreiben, eine Reihe neuerer und heute sehr viel geläufigerer kultureller Phänomene bereits schemenhaft angelegt sind. So erinnert beispielsweise Warhols strauchelnde, spontan vom Mut verlassene Berkeley-Tänzerin an die schrillen Authentizitäts-Effekte, wie sie im Reality-TV bewusst provoziert und konsumierbar gemacht werden. Ebenso mag man an das Abscannen, Konservieren und Weiterbearbeiten „ikonischer“ und ihrem ursprünglichen Kontext enthobener singulärer Momente in Memes, Gifs, usw. denken. Vielleicht fühlt man sich auch erinnert an diverse über TV- und Social-Media-Kanäle verbreitete Bloopers, Pranks, und ähnlich unsouveräne Momente (Hinfallen, Versprechen, Erregungszustände und „Zusammenbrüche“ aller Art), die Zerstreuung zwischen Schadenfreude, Fremdschämen und Peinlichkeits-Relatability versprechen.
Genauso aber ließen sich Smiths „scheußlich gespielte“ Montez-Seufzer und Warhols „schlechte Performances“ als gängige künstlerische selbst-reflexive Verfremdungs- und „Desillusionierungseffekte“ oder ironische Kommentare interpretieren.

Was aber würde ein spezifisches Camp Reading von „Bad Acting“ von all den genannten Zugängen unterscheiden? Was könnte die Camp Sensibility als spezifischen neuen Rezeptionsmodus im Umgang mit Massenmedien zur Mitte des 20. Jahrhundert auszeichnen?

Zum einen lässt sich — bei Smiths Montez-Verehrung vielleicht noch deutlicher als bei Warhols nonchalantem Amüsement über Leftovers — eine eigenartige Zuneigung und Bindung zum Camp-Gegenstand feststellen. Wo viele andere kulturelle Produkte, die Spuren ihres Produktionsprozesses entweder zu verbergen suchen oder als selbst-reflexives Kunstprojekt herausstellen wollen, entwickelt Camp eine eigene „attitude toward the participation of the producers past and present”3, die von einer oft beobachteten Sympathie getragen ist. Auch Susan Sontag, die Camp sonst ja bekanntlich als cool, ironisch und „disengaged“ bezeichnet, bemerkt diese spezielle „Zärtlichkeit“:

„Camp taste identifies with what it is enjoying. People who share this sensibility are not laughing at the thing they label as “a camp”, they’re enjoying it. Camp is a tender feeling.“ 4

Weiter heißt es, um das schon zu Beginn angerissene Zitat nochmal in Gänze darzustellen: „Camp taste is a kind of love, love for human nature. It relishes rather than judges, the little triumphs and awkward intensities of character”.

In dieser Identifikation zeigt sich möglicherweise ein weiteres Spezifikum einer Camp-Haltung zu Bad Acting und Bad Taste. Anstatt zu fragen: „Wer ist so blöd das gut zu finden“, sagt die Camp-Rezeption „What if the right audience for this were exactly me?“(Sedgwick, 1997).

Taking the Terror out of Error.

Im ersten Teil dieser Reihe wurde ein Marlene Dietrich-Darsteller vorgestellt, den Christopher Isherwood als „low camp“ deklassierte. Viele Jahrzehnte später hat die Drag Praxis der Diven-Imitation durch die Serie RuPaul’sDrag Race heute ein größeres Publikum erreicht als je zuvor. Auch Drag Queen Jinkx Monsoon fand durch die TV Show zu Ruhm. Im zarten Alter von 25 perfektionierte Monsoon bereits ein großes Repertoire an Darstellungen antiquierter Diven, von Bettie Davis bis zu Jackie Kennedys exaltierter Cousine Little Edie. Deren eigenwillige Manierismen möchte sie, laut eigenen Angaben, durch Verkörperung am Leben halten „als wären es die Bücher in Fahrenheit 451“. Ihre Herangehensweise zur Diven-Darstellung beschreibt sie in einem Interview mit dem British Film Institute (YouTube Link) so:

“The hard balance of impersonation is you have to love that person, you have to really have some fondness and visceral attraction to that person, you have to have some kind of loving homage or tribute to that person in your impersonation. But you also can’t revere them so much that you’re unable to see what’s funny about that person.”

Diese Form der Fanliebe hat die Idealisierung zurückgelassen und blüht umso mehr, als auch komische und groteske Anteile integriert werden (Anteile, die insbesondere „glamourösen“ weiblichen Stars selten zugestanden werden).
Monsoons Hommage würdigt stilistische Schrullen, die Sontag wohl als „little triumphs of character“ beschreiben würde. Es sind Triumphe, die nicht gleichzusetzten sind mit der Vorstellungen einer unerschütterlichen Willenskraft, planerischen Genies, sondern die die konventionelle Narration auf eine Weise unterbrechen und für neue Möglichkeitsräume aufmachen, die für ein queeres Reading viel interessanter ist.

Im Werk der Queer-Studies Koryphäe Eve Kosofsky Sedgwick taucht Camp immer wieder als zentraler Beobachtungs- und Anschauungsgegenstand auf – so auch bei ihren Überlegungen in dem Essay Paranoid Reading and Reparative Reading. Or; You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You. Darin schreibt sie 1997 über die Dominanz einer bestimmten Perspektive im kritischen Diskurs, die sie als „paranoides“ Paradigma bezeichnet. Diese Perspektive legt großes Vertrauen in das Aufdecken, Entlarven und Offenlegen ideologischer Gesellschaftsstrukturen als transformative Kraft. Eine Solche Art Analyse erschließe sich eine (für Queere tatsächlich feindselige Welt) über den Weg einer „smartness that smarts“, so Sedgewick unter Bezugnahme auf den Psychoanalytiker Joseph Litvak.
Eine queere Rezeptionspraxis wie Camp, in der „Scheitern“ eine derart große Rolle spielt, könnte jedoch auch andere Perspektiven und Funktionen bereitstellen. Ein queeres Reading könne nämlich die für marginalisierte Personen besonders unausweichlich scheinende Verknüpfung von „Errors“ (oder was nach heteronormativen Standards als solche betrachtet werden) und Demütigung lösen; „It seems to me that the importance of >>mistakes<< in queer reading…has a lot to do with loosening the traumatic, inevitable seeming connection between mistakes and humiliation.”6

„Doesn’t reading queer mean learning, among other things, that mistakes can be good rather than bad surprises?”

E. K. Sedgwick nach J. Litvak

Das Verhältnis von kritischer Offenlegung verdeckter Strukturen, Genderkonventionen usw. und der Affirmation erkenntnisbringender und richtungsweisender „Errors“ mag bei Camp letztendlich ein komplimentäres, und manchmal dialektisches sein. Wahr ist, dass der Camp Blick sich bei allem tongue-in-cheek Humor oft schützend und bewahrend auf bestimmte undisziplinierte Irregularitäten richtet. Den „erratischen“ Gesten, stilistischen Formen, Eigenheiten wird auf eine Weise gehuldigt, die nicht nach den üblichen Parametern und gesellschaftlichen Markern des „Erfolgs“ funktionieren und die sich von herkömmlichen subjektivierenden Anerkennungsinstanzen unterscheiden. Anders als oft von Kritiker_innen wie Befürworter_innen behauptet wird, steht im heutigen gesellschaftlich-ökonomischen „Individualismus“ gerade nicht das Individuum per se im Vordergrund, so man dieses als Konglomerat singulärer Eigenschaften, unwillkürlicher Ausdrucksweisen usw. betrachtet. (Aus diesem Grund gilt das Individuum auch nicht als grundsätzlich der solidarischen Zuwendung, Fürsorge und des Schutzes würdig. Vielmehr muss das „Individuelle“ erst permanent durch Wertschöpfung erarbeitet, hergestellt, und kompetitiv gegen Andere verteidigt werden muss.)

Seit Sedgwick haben sich auch andere Theoretiker_innen für eine „Queer Art of Failure“7 als Ausweg aus normativen „Glücksversprechen“8 und repressiven Erzählungen des Gelingens und der Kohäsion stark gemacht. Und zwar insbesondere dort, wo Subjekten ständig die immergleichen Ideale von Nuklearfamilie, Heteroromantik, Selbst-Optimierung und kapitalistischem Streben als sinnstiftende Instanzen und Telos aufgezwungen werden.

An dieser Stelle sei an den britischen gendernonkonformen Autor und Performer Quentin Crisp erinnert. Als wahrscheinlich eine der ersten offen homosexuellen, flamboyanten Medienpersönlichkeiten, prägte er lange wie kein anderer das öffentliche Bild von queerem Stil. Allen Anfeindungen und Schikanen zum Trotz und unter Verzicht auf Sicherheit und Komfort ging er seit den 30er Jahren mit einer fast aberwitzigen Beharrlichkeit mit lilafarbenen Haaren, Make-Up und „effeminate style“ auf den Straßen Englands spazieren. In seiner Autobiografie heißt es dazu: “From that moment on, my friends were anyone who could put up with the disgrace; my occupation, any job from which I was not given the sack; my playground, any café or restaurant from which I was not barred or any street corner from which the police did not move me on.“
Eines seiner wohl berühmtesten Zitate lautete: “If at first you don’t succeed, failure may be your style”.
How very camp! 

Quentin Crisp. Foto: Marjory Dressler

“If at first you don’t succeed, failure may be your style”.

Quentin Crisp

Zur Konturierung einer „Camp Sensibility“ wurden im aktuellen Schwerpunkt vor allem Phänomen der 60er Jahre herangezogen, da das Konzept in dieser Dekade prominent wurde. Die beiden letzten Teile werden jedoch noch einmal drastisch vor- und rückwärts durch das 20. Jahrhundert springen und Verbindungsspuren zwischen einer queeren Moderne und der der späteren Queer Theory aufnehmen.

Literatur:

1 Vgl. dazu Elisabeth Bronfen und Barbara Straumann: Die Diva: Eine Geschichte der Bewunderung: Celebrity Culture im 20 Jahrhundert. Schirmer Mosel, 2002. S.47.

2 Warhol, Andy: The Philosophy of Andy Warhol. From A to B and Back Again. Harcourt, 1974. S.93.

3 Ross, Andrew: „Uses of Camp“. In: Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject: A Reader. Hg.: Fabio Cleto. Edinburgh: Edinburgh University Press, 1999.

4 Sontag, Susan. „Notes on Camp.“ In: Against Interpretation and Other Essays. New York: Picador, 1961.

5 Sedgwick, Eve Kosofsky. Epistemology of the Closet. Berkeley: University of California Press, 1990.

7 E.K. Sedgwick nach J. Litvak in: „Paranoid Reading and Reparative Reading; or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Introduction is About You“. In: Touching Feeling: Affect, Pedagogy, Performativity. Duke University Press. S.147.

8 Halberstam, Jack: The Queer Art of Failure. Duke University Press, 2011.

9 Ahmed, Sara: The Promise of Happiness. Duke University Press, 2010.

Crisp, Quentin: The Naked Civil Servant. Penguin.1968.

Smith, Jack: “The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez.” In: Film Manifestos and Global Cinema Cultures. 1962.