Camp Stories – Teil 1

Strike a pose! Camp-toi sur un pied!

Zur Begriffs- und Diskursgeschichte von Camp

Julia Pennauer, 29.4.24.
Schwerpunkt Camp

Die Flitter Reihe „Camp Stories“ reist durch frühe queere Unterwelten und fördert eine Genealogie camper Posen zutage. Der erste Teil der Begriffsgeschichte führt vom französischen Königshof zu viktorianischen Drag Queens.

Die Geschichte des Begriffs Camp ist primär eine Geschichte des Verschwindens. Als Geheimpraxis von Personengruppen, die großer Repression ausgesetzt waren und sind, ist seine Bedeutung immanent flüchtig. Camp erscheint punktuell in unterschiedlichsten lokalen Gefügen, verschwindet über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte und taucht ganz woanders mit veränderter Bedeutung wieder auf. Jede Annäherung bleibt daher notwendigerweise fragmentarisch und vieles im Dunkeln.

Sich der Geschichte eines Begriffs anzunähern bedeutet nicht, Verständnis und Bedeutung aus seiner historischen Verwendung herleiten zu wollen. Gerade ein Konzept wie Camp veranschaulicht deutlich, dass Bedeutungen stetem Wandel unterliegen. Alte Nutzweisen zu exhumieren, kann aber mitunter auch heißen, das ans Licht zu ziehen, was eventuell beim heute geläufigen Verständnis von Camp als ironische Pop Ästhetik „mit Liebe zur Künstlichkeit“ auf der Strecke blieb, verloren ging oder unsichtbar ist. Se camper oder to camp war ursprünglich ein Verb, also eine Tätigkeit und genau dieser nachzuspüren ist Inhalt des ersten Teils der Serie.      

To Posture Boldly

Die Etymologie des Begriffs „Camp“ ist weitgehend ungeklärt. Vermutlich stammt er entweder vom französischen se camper, was in alten englischen Übersetzungen mit „to posture boldly“ übersetzt wurde oder er wurde vom italienischen campeggiare (deutsch; herausstechen) hergeleitet.

Der erste dokumentierte Auftritt von se camper ist dem Stil entsprechend dramatisch. Genaugenommen erscheint der Terminus in einer Szene aus Les Fourberies de Scapin (deutsch: Scapins Streiche) von Molière, der damals Hofdramatiker von Ludwig XIV war.     Der versponnene Plot dieses 1671 uraufgeführten und von der Commedia dell’Arte – inspirierten Stücks kann an dieser Stelle vernachlässigt werden.  Drehpunkt der Handlung ist jedenfalls durch den genre-typischen, gerissenen Diener Scapin gegeben, der die eitlen Machenschaften der Höhergestellten smart unterwandert. In der burlesken Szene instruiert Scapin seinen Kollegen Sylvestre, sich zu verkleiden und zu verstellen, um einem reichen Herren Geld zu entlocken. Er macht ihm vor, wie man sich mit einer aristokratisch-tänzelnden Pose aufspielt: „Camp-toi sur un pied!“, was in der ersten englischen Fassung übersetzt mit: Strut around like a drama king! wurde.  Die Körperhaltung, die Scapin hier imitiert, ist wohl eine, die in der europäischen Kunstgeschichte oft bei Zurschaustellung und Inszenierung „männlicher Pracht“ herangezogen wurde (ähnlich auch zu sehen in der Selbstdarstellung von Ludwig XIV). Es kann vermutet werden, dass diese Pose (siehe Bild unten) später als Erkennungszeichen unter männlichen Homosexuellen approbiert wurde.

“Camp-toi sur un pied! Mets la main au côté.”

Molière: Fourberies de Scapin, 1671.
Belvedere Antinous. Royal Collection Trust / © His Majesty King Charles III 2024.

Original Camp Pose?  Eine Hand ist aufgestützt, die andere wird entspannt und schlaff nach vorne gekippt. Das Gewicht ist auf einem Bein, die Hüfte verlagert sich und wird dadurch betont. Man findet die Körperhaltung am häufigsten bei Antonius-Statuen (siehe oben), dem Geliebten Kaiser Hadrians, und einem homoerotischen Idol der Renaissance. Auch bei Hermes Darstellungen ist sie manchmal zu sehen. Es gibt Spekulationen, dass die „Camp Pose“ seit dem 18 Jh. als Erkennungszeichen homosexueller Männer im öffentlichen Raum approbiert wurde. Ähnliche Haltungen und Gebaren werden sehr viel später als Code in den verruchten Straßen um Londons Piccadilly Circus von Quentin Crisp beschrieben.

Ludwig XIV – Portrait von Hyacinthe Rigaud (1701; Museé du Louvre)

Strut around like a Drama King! Hier Ludwig XIV – „der Theaterkönig“ – in repräsentativer Pose, das autokratische Bein staatstragend dargeboten – Oh là là!

Zwischen Scapins Possen-Posen und der nächsten dokumentierten, ähnlichen Verwendung von se camper, liegen fast 200 Jahre. Théophile Gautier war vielleicht von pompösen, jedoch wenig zweckdienlichen Zelten des französischen Militärs beeindruckt, als er se camper zu definieren versuchte. In seinem Degenroman Le Capitaine Fracasse von 1863 beschrieb er Camp wie folgt:

se camper is to present oneself in an expansive but flimsy manner (like a tent), with overtones here of theatricality, vanity, dressiness, and provocation“.

Le Capitaine Fracasse (1863) [engl. Übersetzung (1998)]

Wenige Jahre nach diesem frühen Definitionsversuch nehmen Camps „provocations“ auf der anderen Seite des Ärmelkanals eine neue Form an. Es manifestiert sich erstmals die historisch beharrliche Verbindung zwischen Camp und Drag bzw. Travestie.

„My campish undertakings“

1870 berichten im viktorianischen Großbritannien alle großen Zeitungen über die Verhaftung der berüchtigten „He She Ladies“ Ernest Boulton and Frederick William Park. Das Drag Performance Duo – besser bekannt als „Fanny and Stella“ – war wegen Sodomie und „Verstoß gegen die öffentliche Moral“ festgenommen worden. Zwar war das Tragen von „Frauenkleidern“ im Rahmen von Bühnenauftritten zur damaligen Zeit nicht verboten. Doch Stella und Fanny waren, nachdem sie bereits monatelang unter Beobachtung gestanden hatten, kostümiert im öffentlichen Raum aufgefunden worden – und zwar in männlicher Begleitung und in einer „kompromittierenden“ Situation.

Zwei Jahre vor diesen Ereignissen verfasste Frederick William Park alias Fanny ein wehmütiges Schreiben an Arthur Clinton. Clinton war ein aristokratischer Politiker und der Geliebte von Ernest Boulton alias Stella und später ebenfalls in den Gerichtsprozess involviert.

Frederick Park/Fanny beklagte darin, mit seinen/ihren nicht näher spezifizierten „campen Unternehmungen“ keinen Erfolg zu haben. Park unterzeichnete den Brief mit „your affectionate sister-in-law“.

Das genaue Antwortschreiben von Fanny auf Arthur Clintons Geburtstagsglückwünsche lautet:

„I cannot echo your wish that I should live to be a hundred, though I should like to live to a green old age. Green did I say. Oh ciel! The amount of paint that will be required to hide that very unbecoming tint. My ‚campish‘ undertakings are not at present meeting with the success they deserve. Whatever I do seems to get me into hot water somewhere. But n’importe. What’s the odds so long as you’re happy? Believe me, your affectionate sister-in-law, Fanny Winifred Park.“

Antwortschreiben von Frederick William Park an Lord Arthur Clinton vom 21.11.1868. (Hervorhebungen durch die Autorin).
Quelle: anonym.

Fanny und Stella in Drag, 1869.

Erst 30 Jahre nach Fannys „campish undertakings“ erfolgt im gerade erst angebrochenen 20. Jahrhundert die erste offizielle Wörterbucheintragung von „camp“. Was bei Théophile Gautier noch „Theatralität“, „Eitelkeit“ und provozierende Übertreibungen war, wird in der Definition von 1905 um „fehlenden Charakter“ („want of character“) ergänzt:

camp (street): Actions and gestures of exaggerated emphasis. Probably from the French. Used chiefly by persons of exceptional want of character. „How very camp he is.“

Passing English of the Victorian Era von James Redding Ware (1905)

Es findet sich also am Beginn des 20 Jh. ein Camp Begriff, der von den theatralen Posen und Aufmachungen am Hofe Frankreichs über aufgezeltete, eitle Provokationen gewandert ist zu einem hier vom viktorianischen Wörterbuch bemängelten Charakter, einem Charakter, der Übertreibungen zugeneigt ist. Es entsteht ab der zweiten Hälfte des 21.Jh nach der Verbreitung von Susan Sontags Notes on Camp (1964) ein erneut transformierter Camp Begriff. Dieser wird in seinem Gebrauch zunehmend verschiedenste postmoderne Spielformen von ironischen Flohmarkteinkäufen bis zum Sammeln anachronistischer Hollywood-Memorabilia miteinschließen.

Ziemlich genau auf halbem Wege zwischen diesen beiden historischen Abschnitten erfolgt 1937 eine zweite formelle Wörterbucheintragung von Camp, die die längst vermutete Geheimverbindung nun erstmals offiziell macht:

“camp: effeminate, esp. homosexual mannerisms of speech and gesture”

– Eric Patridges Dictionary of Slang and Unconventional English, 1937

An dieser Stelle scheint es angebracht, ein paar Schritte zurückzugehen und über die Unbekannten zwischen Camps spärlich dokumentierten, nur punktuellen Erwähnungen zu spekulieren: Wie zum Beispiel wurden aus der theatral-eitlen Dressiness, also modischer Eleganz, die Théophile Gautier Camp zuschrieb, eine (homosexuell besetzte) Effeminacy, also „Verweiblichung“ oder „Verweichlichung“?

Die Verbindung des Modisch-Repräsentativen mit „Verweiblichung“ ist nur im Kontext grundlegender Wandlungen bürgerlich-europäischer Werte zu verstehen, und deren überformten gegenderten Körper-Inszenierungen, die an diese geknüpft sind. Der zweite Teil der Flitter Camp Stories versucht dieser Verbindung auf den Grund zu gehen.

Literatur:

Booth, Mark: Campe-toi! On the Origins and Definitions of Camp. Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject – A Reader. Ed. Fabio Cleto. Edinburgh: UP, 2008

Camp: Notes on Fashion. Bolton, Andrew, with Karen Van Godtsenhoven and Amanda Garfinkel, with an introduction by Fabio Cleto. Metropolitan Museum of Art, 2019.

Molière: The Impostures of Scapin. Les Fourberies de Scapin. Akt 1, Szene 7. 1671.