Die Camp Sensibility – 2.

Hollywood Ruinen, Star Images, queere US Avantgarden – 1.

Über queere Theater- und Lebensexperimente.

Julia Pennauer, 31.7.2024
SCHWERPUNKT CAMP

Als Susan Sontag in den 60er Jahren ihre Notes On Camp veröffentlicht, florieren in den USA künstlerische Milieus, die an Verbreitung und Erfolg dieses Konzepts maßgeblich beteiligt sind. In der aktuellen Reihe eröffnen wir einen Einblick in einige dieser queeren Kunstavantgarden. Dabei wird Sontags Auseinandersetzung mit Camp auch in Beziehung zum Umfeld von Andy Warhol und Jack Smith gesetzt.  Im aktuellen Teil soll es jedoch zunächst um weniger bekannte Camp Institutionen wie das Theatre of the Ridiculous und die Cockettes Kommune gehen.

Schon vor den emanzipatorischen LGBTQ-Unruhen vor dem Stonewall Inn von 1969 erlangte queer kodierte Kunst in der Pop Kultur der 60er Jahre großen Einfluss. In New Yorks East Village explodierten campe Performance- und Theaterexperimente und feierten durchaus kommerzielle Erfolge. Währenddessen gehen Bilder der San Francisco-Drag Kommune „The Cockettes“ um die Welt.Die in Folge beschriebenen queeren Kunstmilieus bewegen sich zwischen bildender Kunst, Experimentalfilm, Theater, und Sparten, welche zum damaligen Zeitpunkt überhaupt erst im Entstehen waren, wie Expanded Cinema, intermedialer Performance Art, oder der Arbeit mit Found Footage. Verbindende Merkmale, die diese queeren Settings teilen und von anderen etablierten modernen Kunstbewegungen trennen sind das Interesse an Popular- und Celebrity-Kultur, Hollywood und B-Movies, Designs der Alltags- und Konsumkultur (wie zB. Werbung, Comics, Textilien), populare Mythologien, medial vermittelte und filmisch inszenierte Star- Körper und natürlich Drag als Prisma, durch das all diese Phänomene reflektiert werden können. Wie schon ihre queer-surrealen Vorläufer Kenneth Anger und Parker Tyler, teilten fragliche Kunst-Settings eine gewisse Sensibilität für eher zufällig erzeugte auratische Effekte, die kulturindustrielle Inszenierungen als Nebenprodukte abwerfen (der eigenartige Gang eines bestimmten Stars, merkwürdige Erzählkonventionen bestimmter Genres). 
Wie und in welchem Ausmaß die aufgezählten Elemente künstlerisch eine Rolle spielten, konnte sehr unterschiedlich ausfallen: In der Factory um Andy Warhol spielen Reduktion auf ikonisch-wiedererkennbare Details, das Spiel mit Wiederholung/Serialisierung und Dekonstruktion oft eine Rolle. Am camperen Ende des Stil-Spektrums – wie bei Jack Smith, oder den Cockettes – werden zum Beispiel veraltete Hollywood Referenzen zu maximalistischen Trash-Kompositionen oder surreal komischen Traumlandschaften neu zusammengesetzt.

CAMP, POP, ART

Camp als Rezeptionserfahrung und queerer Gestaltungsmodus spielt in Kunstmilieus um Jack Smith, Andy Warhol und dem Theatre of the Ridiculous eine große Rolle. Zwischen diesen Milieus gibt es auch zahlreiche personelle Überschneidungen: dieselben Amateurinnen, Bohemians, Eccentrics, Drag Queens, die im Theatre of the Ridiculous performen, waren oft auch an den Sets von Warhols Factory oder Jack Smiths Filmen anzutreffen. (So waren z.B. Mary Woronow, Mario Montez, Jackie Curtis, Taylor Mead, Ondine, Jayne Jounty und Holly Woodlawn, um nur einige Namen zu nennen, an mindestens zwei dieser Schauplätze zu finden). Auch Susan Sontags theoretische Arbeit weist zumindest zwei dieser Settings, nämlich Jack Smith und Andy Warhol, eine Verbindung auf (siehe Kasten).

Text Relations. Susan Sontags Notes im Austausch.

Foto (c) Andy Warhol. 1964
Bereit für ihren Screentest. Susan Sontag 1964 extrem cool auf Besuch bei Andy Warhol in der Factory.
Susan Sontag (1979) (c) Lynn Gilbert
Sontag 1979 im klassischen Intellektuellenportrait (obligatorischen am Schreibtisch vor prall gefülltem Bücherregal).

1962 verfasst Jack Smith seine manifestartige Hommage an die 40er Jahre Schauspielerin Maria Montez („The perfect filmic Appositeness of Maria Montez“), ein früher Text über die Produktivmachung von „Trash“-Filmen. 1964 schrieb Sontag eine Laudatio zu Jack Smiths damals skandalösen Film Flaming Creatures. Im selben Jahr veröffentlichte die junge Susan Sontag ihre bis heute viel rezipierten und diskutierten „Notes on Camp“. Bald wird sie mit ihren diversen Essays zum Prototyp einer neuen Art intellektuellen Superstars. 1965 dreht Andy Warhol mit Jack Smith und Drag Queen Mario Montez den Film „Camp“, dessen Titel eine Reminiszenz an Sontags kurz zuvor erschienenen einschlägigen „Notes on Camp“ ist.

Susan Sontag (1933-2004) war übrigens was die Kundmachung ihrer eigenen sexuellen Orientierung betrifft sehr zögerlich und machte diese, trotz langjähriger lesbischer Beziehungen, erst spät im Leben öffentlich.

Der immense Erfolg von US Pop Art, insbesondere Warhol, trug dazu bei, dass Aspekte einer queeren Ästhetik sich rasch verbreiteten. Queere Kodierungen und Inhalte blieben dabei jedoch oft im Schatten. Die intellektuelle Auseinandersetzung mit der hohen Dichte homosexueller Akteure und Codes in US Pop Art erreichte öffentlicher Debatten erst sehr viel später. Autor_innen wie Jenifer Doyle, Mandy Merck, José Esteban Muñoz und Douglas Crimp haben viel zu diesem Perspektivenwechsel, weg von einer reinen interpretatorischen Reduktion auf Fragestellungen zu flacher Konsumästhetik und Mediengesellschaft, hin zur Untersuchung von queer-utopischen und campe Elementen in Warhols Schaffen.1

Dass Sontags „Notes on Camp“ so eine starke öffentliche Resonanz fanden und Camp bald zu einem beliebten Massengeschmack und Designtrend wurde, mag verschiedenen kulturellen Entwicklungen der 60er Jahre geschult sein (mehr dazu an einer anderen Stelle). Doch der wachsende Einfluss queer-camper Kunstmilieus in urbanen US-Zentren der 60er ist so etwas wie das oft überhörte Hintergrundrauschen zur Erfolgsgeschichte von Sontags Text.
Besagte queere Kunstszenen nahmen Referenzen aus der popularen Kultur auf und transformierten sie durch ein Camp Eye, was wiederum von der Popularkultur (und später auch der Kunstwelt) selektiv aufgenommen wurde. Spätestens seit den 60ern etabliert sich so in gewisser Weise ein wechselseitig „parasitäres“ Verhältnis zwischen den sogenannten „Massenmedien“ und queerer Subkultur.
In ihrer gleichzeitigen Abwendung von modernistisch-bürgerlichem Ernst, wie auch kulturindustrieller Normierung und Gleichschaltung, suchen queer-subkulturelle künstlerische Settings der 60er und frühen 70er einen dritten Weg – den campen Weg. Zwei dieser Settings sollen in Folge vorgestellt werden.

THEATRE OF THE RIDICULOUS

Das Theatre of the Ridiculous war ein Anker camper Kunst im New York der 60er und 70er Jahre. Charles Ludlam, John Vaccaro und Ronald Tavel gründeten es 1965. Sie vermischten B-Movie Plots mit experimentellen Einflüssen des Living Theatre und Performance Art. Drag-Verballhornungen klassischer Dramen und Märchen trafen auf Sujets aus Werbung oder Tarot. Das Ganze wurde dann mit reichlich homoerotischen Anspielungen und Slapstick unterlegt (vor allem bei Charles Ludlam) und anschließend gesamte Bühnensets inklusive Publikum großzügig in Glitter getaucht (insbesondere John Vaccaro war für den exzessiven Gebrauch von Glitter bekannt). So wurde die Ästhetik von Drag Queens und Elemente von Vaudeville auf die experimentellen Theaterbühnen gebracht. Klingende Namen einiger bekannter Produktionen, die aus dem Theatre of the Ridiculous hervorgingen sind:  When Queens Collide, Camille,  Turds in Hell, The Life of Lady Godiva, The Grand Tarot, Eunuchs of the Forbidden City,The Mystery of Irma Vep.

1967 teilten sich John Vaccaro und Charles Ludlam aufgrund künstlerischer und zwischenmenschlicher Differenzen in zwei Truppen, dem Playhouse of the Ridiculous und der Ridiculous Theatrical Company.  Ronald Tavel, der eine Zeit lang noch mit Vaccaro kollaborierte, ist heute vor allem für seine Regiearbeiten für Andy Warhol bekannt.

“Cockstrong” Aufführung bei Sigma Festival in Frankreich 1971 – Playhouse of the Ridiculous, Produktion: John Vaccaro.

Für John Vaccaro, stand vor allem das „Transgressive“ im Vordergrund: Körper- und Geschmacksgrenzen, Taboo, Trash, Brachiales, Ausscheidungen (ebenfalls in Glitter getaucht). Er hatte eine große Resonanz in der amerikanischen Proto Punk-Bewegung: Patti Smith war zeitweise Ensemble-Mitglied und die New York Dolls ließen sich von seinem Theater zu ihren Drag Looks inspirieren. (Über Vaccaros Einfluss auf Glam- und Glitterrock werden wir an einer anderen Stelle noch berichten!). Neben Punk Koryphäen konnte man Marcel Duchamp – seines Zeichens ebenfalls Drag Queen mit Affinität zu „Toilet Humor“ – in seinen späten New York Jahren im Publikum des Theatre of The Ridiculous antreffen. Vaccaros Arbeiten sind sehr spärlich dokumentiert. Das mir einsehbare Material, enthielt Tendenzen, die ich als äußerst schwierig empfinde: Transgression/Provokation wird als wichtigster heroischer Selbst/End-Zweck betrachtet. Mitunter gibt es „edgy“ exotisierende „Primitivismus“-Darstellungen. Außerdem war Vaccaro für seinen autoritären Regie-Stil bekannt. Angeblich stieß er Drag Ikone Jackie Curtis einmal von einer Treppe. Auch Vaccaros Kollaborateur Ronald Tavel nutze die grenzüberschreitende Agitation von Darsteller_innen als „Regie-Mittel“ in Warhols Filmen. Wohl auch aus diesen Grünen spaltete sich Charles Ludlam, der selber Schauspieler und passionierte Drag Queen war, 1967 ab und gründete seine eigene Ridiculous Theatrical Company. Während Vaccaro sehr viel Wert darauf legte, keine „gay plays“ zu machen, hatte Charles Ludlam mit diesem Label keine Probleme. Ludlam wurde für sein nuanciertes Drag Schauspiel gerühmt, die Art wie er bei der Darstellung großer Frauenrollen wie Norma Desmond oder der Kameliendame zwischen Einfühlung und queerem Slapstick changierte.

Charles Ludlam

In seiner berühmten Camille Darstellung trug Ludlam einen tiefen Ausschnitt, der
die behaarte Brust entblößte.

Peter Hujar, Charles Ludlum as Camille, 1974 © 2024 The Peter Hujar Archive / Bildrecht

Die feministische Performance Wissenschaftlerin Katy Davy berichtet, wie Ludlam die Todesszene der Kameliendame/Camille so spielte, dass (auch das heterosexuelle) Publikum zu Tränen gerührt war, wobei bei der Inszenierung durchschillerte, dass sie auch vom Begehren zwischen Männern handelte. In der Sterbeszene meint Camille ernst: „Ich friere, wirf doch noch ein paar Reisbündel (englisch: Faggots = Reisbündel, <Schwuchtel>) ins Feuer“. Auf die Antwort, es gäbe keine Reisbündel/“Faggots“ mehr im Haus, setzt sich Ludlam abrupt auf, fixiert skeptisch das Publikum und fragt traurig „no faggots in the house?“ um dann weiter zu sterben. Davy meint, dass sie gewillt war, den Drag Ludlams in gewisser Weise als Reproduktion und nicht nur als Kritik heterosexueller Stereotypen zu sehen, bis sie zum ersten Mal eine Inszenierung eines Ludlam-Stücks durch eine „straighte“ Theatertruppe sah, das ihr den Unterschied drastisch vor Augen führte. Qualität und Mehrwert von Ludlams Darstellung lagen für Davy in seiner besonderen campen Mischung aus einfühlender Verkörperung und „brechtscher Verfremdung“.2

In den Notes on Camp führte Sontag zahlreiche Gegenstände an, die sie als Teil des Camp Kanons sah (z.B. Tiffany Lampen, Opern, Jugendstil, bestimmte Schauspieler_innen oder Comics). Für Ludlam, der zahlreiche Essays über seine Theaterarbeit verfasste, war Camp eine auf ähnlichen Erfahrungen mit bestimmten (kulturellen) Gegenständen beruhende geteilte Attitüde. Das Konzept Camp würde all seine entscheidende (politische) Relationalität verlieren, würde man versuchen, es auf bestimmte „inhärent campe“ Gegenstände festzunageln. (“What’s wrong with that is camp ceases to be an attitude toward something and loses all of its relativity. It nails it to the wall and makes it very literal”).                                                                                

Nach der Veröffentlichung von Sontags Notes wurde Camp bald allen möglichen Gegenständen zugeschrieben, die over-the-top, artifiziell wirkten oder ironisch wirkten. Ludlam war einer der frühsten Kritiker der Transformationen, die Camp durch neue Resonanz in der „straighten“ postmodernen Kultur durchlief. Camp würde seiner laut ihm so zu einer Art Ironie im abgesicherten Modus werden:

“The thing that’s really horrible is heterosexual camp, a kind of winking at you saying, “I don’t really mean it” 3

Das von Ludlam beschriebene „schreckliche Augenzwinkern“, beschreibt eine Ironie ohne parodistische, erneuernde, oder kritische Aussage. Es ist auch eine noch heute wohlbekannte Methode, fragwürdige und reaktionäre, sexistische usw. Inhalte zu reproduzieren, und sich gleichzeitig gegen Kritik zu immunisieren. Es ist eine Ironie, die meint, außerhalb von Machtverhältnissen zu stehen aber diese gleichzeitig erhält.

Aus Ludlams „Composition Book“

Charles Ludlams im Lincoln Center archiviertes (halb verschimmeltes) Tagebuch (Composition
Book) von 1966.
Billy Rose Theatre Division, The New York Public Library

Obwohl Ludlam nicht im bildnerischen Bereich arbeitete, nutze er in seinen Arbeits-Notizen und Stück Skizzen interessanterweise Pop Art und Cut Up artige Textbildcollagen. Auch hier sieht man das Interesse an medial vermittelten Körpern und Posen, Celebity- und Star-Culture. Übervertraute, massenweise reproduzierte Bilder und Gesichter werden mit falschen (ebenfalls übervertrauten) Schlagzeilen, Namen, versehen. Unter einem Bild der Queen steht „Amelia Earhart“, unter eine Gefängnisinsassin „Judy Garland“. Einzelne aus anderen Medien entnommene Elemente werden skeptisch betrachtet oder neu kontextualisiert.

Ludlams Theater schloss sowohl an traditionellere burleske, komödiantische Drag-Traditionen, wie auch an experimentelle Tendenzen der 60er Jahre an. Die unsinnigen Plots nahmen Horror-, B-Movie und Abenteuerroman-Motive und Figuren auf: „Hermaphroditen“, Eunuchen, ein wahnsinniger König Blaubart der Frankenstein-Geschlechtsteile zusammenschustert. Solch explizite Darstellungen dienten bei ihm, anderes als bei Vaccaro oder anderen 60er Kunstprotagonist_innen, eher zur burlesk-satirischen Verstärkung oder queer-kritischen Kontextualisierung als dass ihnen per se eine „befreiende“ oder „subversive“ Wirkung attestiert wurde.  Das Pornographische sei ihm immer zu langweilig naturalistisch, behauptete Ludlam in einem Brief: „Depicting sexual things -nudity and all- we were taking a satirical view. We were celebrating physical love, or criticizing it, or commenting on it. It was the seriousness of pornography that we were never into.”4

Foto: Leandro Katz©2024 – Aus: „Bedlam Days: The Early Plays of Charles Ludlam and The Ridiculous Theatrical Company.
Bunny Eisenhower, Lola Pashalinski, Bill Vehr in
Charles Ludlams Turds in Hell. 1968.

Ludlams Stücktexte sind weitgehend erhalten, doch lebten diese erst vom eigenwilligen Performance-und Inszenierungsstil Stil der Company. Mein persönlicher Favorit unter den erhaltenen Textfassungen ist das 1977 uraufgeführte Stück Der Ring Gott Farblonjet. Es ist eine Veräppelung von Wagners Ring des Nibelungen in denglisch-jiddisch angelehnter Fantasiesprache mit „Dykes on Bikes“ als Walküren und fiesen Pseudodeutsch sprechenden Zwergen.                                                                                   
Ludlam feierte mit seiner Ridiculous Theatrical Company beim New Yorker Publikum erhebliche kommerzielle Erfolge. Später trat er in  Filmrollen für Rosa von Praunheim und in James Bidgoods Pink Narcissus auf. In den 80ern wurde er sogar von Madeleine Kahn eingeladen, im Hauptabendprogramm in ihrer ABC-Sitcom in Drag aufzutreten. Ludlam starb 1987. Seine Todesanzeige in der New York Times (1987) war eine der ersten, die AIDS explizit als primäre Todesursache erwähnte.

THE COCKETTES

Anders als die New Yorker Kunst-Gruppen um die Factory und das Theatre of the Ridiculous schlossen sich die Cockettes in San Francisco ohne übergeordnete Regie-/Kunst-Persönlichkeiten zu einer Gemeinschaft „androgyner Freaks“ 5 zusammen.

Old Hollywood und LSD

Cockettes Gründungsmitglied Hibiscus und Angel Jack. Quelle: unbekannt

Während viele linke Gruppierungen der 60er kulturindustriellen Produkten gegenüber eher skeptische eingestellt waren, liebten die Cockettes Old Hollywood Diven und Musicals. Von den glamourfeindlicheren Kommunen, aus denen sie teilweise hervorgegangen waren, unterschied die Cockettes neben ihrer Queerness, ihre extreme Cineastik. Sie kuratierten mitternächtliche Kultfilm-Vorführungen um die herum sie ihre teils improvisierten rauschhaften Drag-Dreamscapes performten.

Die sehr divers zusammengesetzte Drag-Hippiekommune war zwar überwiegend gay, aber keineswegs exklusiv. Auch Heterosexuelle und/oder Frauen mit Kindern waren Teil der Cockettes.  Die Künstlerin Fayette Hauser, die später Roben für Bette Midler entwarf, meinte dass die Frauen der Kommune den eklektischen over-the-top Drag als Befreiungsmittel von repressiven weiblichen Kleidungskonventionen gestalteten. Die Dragästhetik der Cockettes ging oft ins Karnevaleske, Märchenhafte, Clowneske über. Sie sammelten Vintage Kleidung bevor dies in Mode war, bastelten aus diesen Kostüme, durch die sie sich ausdrückten „because drugs made everyone nonverbal”.6

Shooting für The Cockettes Paper-Doll Book, Foto © Clay Geerdes 1971

Neben ihren Drag Interpretationen waren auch die bildnerischen ästhetischen Zugänge der Cockettes vielfältig. Aus der legendären The Cockettes Doku von David Weissmann und Bill Weber kennt man vor allem die Glitter Collagen von Hibiscus.

Hibiscus and Angel Jack in Amsterdam (Quelle: unbekannt)
Filmstill aus The Cockettes, Dokumentation von Bill Weber/David Weissmann, 2002.

Rechts oben: Das Skizzenbuch von Hibiscus für Aufführungen im Palace Theatre, die seiner Meinung nach immer kostenlos (ergo FREE) bleiben sollten. Hier vorgestellt von seiner Mutter Ann Harris, die an seinen späteren Produktionen mitarbeitete.

MS Thr 2057, Houghton Library, Harvard University. Flyer & Poster der Cockettes und der aus diesen hervorgegangenen Angels of Light. 1969-73.

Mit zahlreichen, anonym gestalteten Broschüren, Zines, Flyer, Einladungen hinterlassen die Cockettes ein Konvolut von extrem interessanten Designs, Grafiken und Typographien. Oft gehen Jugendstil Girlanden im Stile des Yellow Books in poppig psychedelische Elemente über und vermischen sich mit wild durcheinander gewürfelten Kalligrafie-Einflüssen. Flammende Schriften erinnern an die späteren Heavy Metal Designs à la Christophe Szpajdel, die noch später wiederum von der Club Kultur entdeckt wurden.

Oben: Flyer der Angels of Light (1970).

Unten: Die später entstandenen schwarz-weiß Fotografien von Cockettes-Mitglied Steven Arnold. Der Stil ist inspiriert von Georges Méliès Stummfilmen, dem Kino der Attraktionen und den überfüllten Bric-à-Brac Tableaus von Jack Smith.

Foto © Steven Arnold, courtesy of Fahey/Klein Gallery, Los Angeles.

„Heal-a-zation Swathe a la Glob Ba“ 1981.

Foto ©The Steven Arnold Museum and Archives.

Sea of Transistion, 1983, Steven Arnold

Von den Cockettes gingen viele interessante Verbindungslinien und Kollaborationen aus: Von John Waters und Drag Queen Divine bis zu Salvador Dali, der angeblich Steven Arnold protegierte.  
Während das Theatre of the Ridiculous mehr die Glam Rock Bewegung beeinflusste, lässt sich von den Cockettes eine überraschende Verbindung zu den Anfängen von Disco ziehen. Eines der bemerkenswertesten kurzzeitigen Cockettes Mitglieder war die späteren queere Disco Ikone Sylvester. Beide Konstellationen, also sowohl das Theatre of the Ridiculous als auch die Cockettes, trugen mit ihrer einschlägigen Mischung aus B-Movie- und Drag-Liebe wohl auch zum kommerziellen Erfolg späterer Produktionen wie der Rocky Horror Picture Show bei. (Mehr zu dem Nachhall beider Truppen in der Popkultur folgt in den upcoming Flitter Glitterballs!)  

Scrumbly – Pristine Condition – Sweet Pam
Mink Stole – David Baker Jr – Billy Orchid
Photo © Clay Geerdes

Laut Schilderungen von John Waters wurde Divine (alias Harris Glenn Milstead) erst durch die Begegnung mit den Cockettes von einer Part Time-Divine zur Full Time-Divine.

MS Thr 2057, Houghton Library, Harvard University.
Flyer for Sylvester And His Hot Band, 1971.

Filmstill aus „Elevator Girls in Bondage“. 1972. Regie: Michael Kalmen.

Oben: Rumi Massabu agitiert mit Marx in „Elevator Girls in Bondage“. Eine der wenigen Filmproduktionen mit Cockettes-Mitgliedern.

Es ist heute kaum vorstellbar und nahezu vergessen, welch legendären Status die Cockettes in den drei Jahren ihres Bestehens erreichten und was für weite Kreise ihr Schaffen zog. Musikzeitschriften portraitierten einzelne Cockettes über eine ganze Seite wie Popstars. Politische, studentische und Counterculture Blätter, berichteten über ihren Lebensstil.

Links: Die Politik- und Literaturzeitschrift Ramparts über die Cockettes und das „dritte Geschlecht“. (1973)

Rechts: Die französische Fotografie-Zeitschrift Zoom schreibt über den Besuch der Cockettes in New York. (1973)

In den 70ern professionalisierten sich die Cockettes mit skript-basierten Aufführungen wie dem von Kenneth Anger inspiriertem Hollywood Babylon (1971)  oder Pate on Pate (1970) –„an ode to Glitter and to Jayne Mansfield“

Als sie 1971 in New York performten waren von Liza Minelli, Andy Warhol, Truman Capote und Gore Vidal bis zu Angela Lansbury und Paul McCartney diverse Prominenz im Publikum anwesend. Sie floppten natürlich total. Ihr chaotischer und familiärer Stil war mit der coolen New Yorker Ästhetik der frühen 70er wenig kompatibel.

Foto (c) David Wise.
Performer Hibiscus spaltete sich mit den Angels of Light von den Cockettes ab, da er gegen die Einführung von Stückskripten und Eintrittsgeld war.  Hibiscus wollte weiter im kleinen Rahmen improvisieren, während viele Cockettes den Wunsch nach Professionalisierung hatten.

Ab 1972 führten harte Drogen, Geld verdienen müssen, künstlerische Differenzen und später auch die AIDS-Epidemie dazu, dass die Cockettes von der Bildfläche verschwanden. Auch war der vormalige Lebensstil der Truppe in den 60ern ja nur durch ein wohlorganisiertes Kommunennetz, das sich gratis wechselseitig mit allen möglichen Dienstleitungen versorgte, und das großzügige San Francisco Welfare /Food Stamps System gewährleistet worden. Laut dem Zeitzeugen John Waters ermöglichten kalifornische 60er Sozialleistungen – unbewusst und unintendiert – kurzzeitig neben zahlreichen sozialen Experimenten ein reges nicht marktorientiertes Kunst- und Kulturleben.

(c) FLOWERS, John and Clay GEERDES. The Official Cockettes Paper Doll Book. 1971

Die verschiedenen Zettel, Broschüren, Zines, die die Kommune hinterließ, gewähren einen Einblick, wie die Cockettes unterschiedliche mediale Stilisierungstechniken zitathaft aufgriffen, um sich als queere Körper, Community, alternative Wahlfamilie zu inszenieren und zu konstruieren. Einmal entwarfen sie sich als Calender Girls für den Kommunen-internen Kalender, einmal als ausschneidbare Anziehpuppen. Dieses Merkmal des Selbstentwurfs durch Aufgreifen und Neumodelierung gängiger Inszenierungsmittel teilten die Cockettes auch mit weniger hippiesken queeren Kunst-Communities der 60er und 70er…

Zwischen Performance und Lebensgemeinschaft

Das Arbeiten in neuartigen gemeinschaftlichen Anordnungen von wahlverwandten „Superstars“(Warhol), „Creatures“(Jack Smith), „Cockettes“ (The Cockettes) oder den späteren „Dreamlanders“ von John Waters ist eine auffällige Gemeinsamkeit früher queer geprägter Kunstmilieus. Die Vercampung und Verque(e)rung von „Stardom“ zur Selbst-Konstruktion ist eine weitere Gemeinsamkeit. Genauso wurde das mediatisierte Gemeinsam-abhängen als Gruppenkonstellation mitunter selbst zum Kunst-Gegenstand gemacht. Gewisse Aspekte dieser Mischung aus Selbst-/Fremd-Beobachtung und Selbst-/Fremd -Hervorbringung finden wohl im späteren Reality TV einen leisen Nachhall. Auch hier gibt es ja häufig temporärer Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, die eine eigene Form von „Celebrity“ hervorbringen.

Mehr über Andy Warhols „Superstars“, Jack Smiths „Creatures“ und queere Avantgarden folgt in Teil 3 der Camp Sensibility-Reihe.

Literatur:

1 Siehe zum Beispiel: Pop Out: Queer Warhol. HG. J. Doyle et al.

2 Kate Davy: „Queering Gender Performance: Die Kunst und die Politik von Charles Ludlams Theatre of the Ridiculous und die lesbische Herausforderung.“ In: Golden Years. Materialien und Positionen zu Queerer Subkultur und Avantgarde zwischen 1959 und 1974. HG. D. Diederichsen et al. 2006

3 Charles Ludlam: „Camp“. In: Ridiculous Theatre. Scourge of Human Folly. The Essays and Opinions of Charles Ludlam. HG. S. Samuels. 1992.

4 In: Ridiculous Theatre. Scourge of Human Folly. The Essays and Opinions of Charles Ludlam. HG. S. Samuels. 1992.

5 The Cockettes, Dokumentation von Bill Weber/David Weissmann, 2002. Grandelusion Production.

6 Ibid.

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Archive:

Charles Ludlam papers, Billy Rose Theatre Division, The New York Public Library

MS Thr 2057, Houghton Library, Harvard University.