Camp Stories – Teil 2

Kings and Queens…and Balls!

Zur Begriffs- und Diskursgeschichte von Camp

Julia Pennauer, 29.4.2024.
Schwerpunkt Camp

Teil zwei der Flitter Camp Stories führt in die Molly Häuser Londons und in das „House of Swann“ in Washington. Im Anschluss an den letzten Teil der Serie suchen wir zunächst das Camp-„Fantasma Versailles“ auf.

Drama Kings Drama Queens.

Der bisherige Abriss zur Begriffsgeschichte Camps führt von (schein)-aristokratischen theatralen Posen in Versailles über die genderqueeren „Unternehmungen“ viktorianischer Drag Queens zu Übertreibungen mangelhafter Charaktere; Exceptional want of character – etwas Abwesendes, Unsichtbares wirft sich repräsentativ in Schale, „donnert sich auf“.

Es ist davon auszugehen, dass frühe anglophone queere Subkulturen den nach bürgerlichen Normen zunehmend als frivol und „effeminiert“ geltenden aristokratischen Geschmack approbierten: Posen, Pomp und (offensichtlicher) Manierismus werden zur geheimen Ausdrucks-, und Verständigungsform, insbesondere -jedoch nicht nur – durch homosexuelle Männer.

Immer wieder dienen im Laufe der (Mode-)Geschichte dekorativer Exzess, das Protzige, das müßig-luxuriös Überflüssige (oder was als solches rezipiert wird) als Referenzpunkt anti-bürgerlicher Ästhetiken – wie später auch zu finden bei manchen proletarischen Jugend-Subkulturen. Prunk, Theatralität und Ornament eignen sich, sobald von ihrer ursprünglichen repräsentativen Funktion befreit, als „Darstellungsmittel individueller Phantasien, Mythologien, Tagträumen und unverschlüsselter Sinnlichkeit“1.  Laut Marc Booth dient der Fantasieraum Versailles (versus dem konkreten Versailles als Ort historischer Macht und Gewaltausübung) als häufiger Referenzpunkt von Homo-Protocamp – also „excessive dress, emphasis on social performance and display, cultivated poise“.

Kostümstudie: Bibliothèque Nationale de France

Ludwig XIV. der balletttanzende Sonnenkönig.

Fashion-Queen Marie-Antoinette mit Drag Hair- wahrscheinlich von ihrem Lieblingsfriseur Léonard-Alexis Autié, besser bekannt als Monsieur Léonard. Diesen „Sohn einfacher Kaufleute“ erhob sie zum Star und räumte ihm sogar teilweise Privilegien gegenüber dem Hofstaat ein.
Marie Antoinette überdauert im kulturellen Bewusstsein – den fingierten Kuchen sei Dank – als Inbegriff von „privilegien-ignorant“ (was sie, genauso wie die meisten adeligen Machthaber_innen, wahrscheinlich auch war). Doch nicht nur das. Laut Barbara Vinken spukt sie vor allem als misogyn geprägte Vorstellung einer „weibischen“ lustbesessenen Aristokratie durch die Jahrhunderte; als Gegenentwurf zur bescheidenen „Mutter und Hausfrau“ wie auch zu bürgerlicher Tugendhaftigkeit.

Was die Camp Imagination interessiert ist nicht das tatsächliche imperiale Versailles, wo der Prunk noch eine politische Funktion hatte. Es sind auch nicht konkrete historische Personen und Referenzen; Es ist nicht der Ballett-König Ludwig XIV, der Politik und Pomp als Gesamtkunstwerk, mit ihm selbst in der Hauptrolle, inszenierte. Es ist nicht mal sein Bruder Philippe von Orléans, dessen notorisches Cross-Dressing in den Transvestite Memoirs of The Abbe de Choisy (1737) festgehalten ist. Es ist auch nur sehr bedingt das phantasmagorische kulturelle Nachleben von Marie Antoinette, die mit ihren modischen Improvisationen unabsichtlich die „gottgewollte“ Ordnung dekonstruierte (denn sie trug Unterwäsche als Überwäsche und mixte in ihrem Stil „Herrscherin“, „Schauspielerin“, und „Mätresse“).

Es ist laut Marc Booth nicht das echte Versailles als „symbol of decorative absolutism“, das die frühe Camp Fantasie beflügelt, sondern ein imaginäres Camp-Versailles als „symbol of absolute decorativism“2. Zu Deutsch; Frühe queere Camp-Subkulturen imaginieren den dekorierten Absolutismus zu einer Verabsolutierung des Dekorativen.                                            

Ich würde dem hinzufügen, dass es hier nicht um das Primat des Dekorativen geht, also nicht darum, dekorativen Stil über einen als Gegensatz konstruierten Inhalt oder Essenz zu stellen. Es geht darum, dass dekorative Ornamente und theatrale Maskeraden im Laufe der Zeit für Neubesetzung und spielerisch humorvolle Aneignungen und Zurückweisungen frei geworden sind.

André-Charles Boulle, Commode Mazarin, 1708.

Louis Quatorze Stil

Die zunehmende bürgerliche Bewertung des Repräsentativ-Dekorativen als „weibisch“ verdient gesonderte Aufmerksamkeit. Sie scheint darauf zurückzugehen, dass man die „schöne“ modische Repräsentation, in dem Moment, wo sie von der Macht entkoppelt wurde, an Frauen delegierte. Das neue bürgerlich männliche Macht-Subjekt ist ganz Interiorität, Arbeit am Geistigen. Männer erscheinen nicht mehr, sie sind einfach. Der mächtige bürgerliche weiße Mann verschwindet zunehmen für lange Zeit körperlos und unsichtbar im anonym-neutralen Anzug. Körper, die „angesehen werden“ sind die Körper der „anderen“: Frauen, Schwule, diverse kolonisierte und rassifizierte Andere, nur gelegentlich ist auch der modelos-maskuline nackte Arbeiter als Kraftmaschine Gegenstand der Betrachtung…no homo natürlich!

Angesehen zu werden ist „effeminierend“. Die modische Pracht, die an körperliche Metamorphosen, und das Verwiesensein auf andere erinnert, droht lächerlich, „tuntig“ zu sein. Von der Macht entkoppelt, wird das modisch-erotische Zeigen daher pretty, gefällig oder fetisch-förmig auf kontrollierte Weise steril normiert…ein Spektakel, das selbst ohne Blick ist.

Heutige campe Drag Kings und Queens, aber auch die campen Diven vieler Schaubühnen, erzählen von Spektakeln, die zurückschauen, mit Erwartungen spielen, uns amüsiert zusehen, wie wir sie anschauen. Sie sind umhüllt von prächtigen Maskeraden, die raumgreifend und raumgestaltend sind, Distanz und Aufmerksamkeit schaffen. Sie können gleichzeitig grotesk und lieblich, mächtig und pretty sein, voll geistreichem Witz und komischer Körperlichkeit. Camp verunreinigt hierarchisch aufgeladene ästhetische Grenzen. Es bleibt noch die Frage offen, in welchen subkulturellen Formationen die von Booth herangezogene frühe Proto-Camp Kultur sich (trans-)formierte und weitertrug. Als zentraler Schauplatz der „effeminate“- und homosexuellen Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts mögen die Mollie Häuser hier eine wichtige Rolle gespielt haben.

Mollies

Good Golly Miss Molly! Yeah, you sure like to ball!” wusste 1958 schon Little Richard, der androgyne Rock’n‘ Roll Pionier mit Drag Vergangenheit.

Die Kultur der Molly Häuser florierte ab ca. 1700 als Hort früher Camp Praxen, Drag-Shows und Wettbewerbe, die  auch die Hinterzimmer für sexuelle Kontakte homosexueller und gender-nonkonformer Männer bereit stellten.

„Mollyhouses“ waren auch jene erstaunlich klassenübergreifenden Schauplätze diverser trans- und genderqueeren Expressionen, über die wahrscheinlich Fanny und Stella (siehe Teil 1), das Wort „camp“ erreichte.  Die Hinterstuben der Molly Coffeehouses die von 1800-1830 ihre Hochblüte erlebten, waren mit eigenen Kapellen für rituelle symbolische, wie auch parodistische Hochzeiten ausgestattet.

In kommunalen identitäts-stiftenden wie -hinterfragenden Praktiken wurden in theatralen Schutzräumen alternative Wahlfamilien aus „Sisters“, „Husbands“, „Mothers“, „Children“ gegründet und erprobt. Hier gibt es sicher eine Kontinuität von den Molly Houses zu den legendären latin- und afroamerikanischen „Houses“ in New Yorks Harlem. Viele Konstanten queerer Perfomance-Kulturen scheinen bis zu den Mollies zurück zu reichen: theatrale Rollenspiele als Form von Selbstbestimmung, Selbsterneuerung und Sichtbarkeit, wo sich verbindliche und parodistische Elemente spielend finden. Charakteristisch ist auch der fluide Übergang zwischen Publikum und Performenden.

Mother Clap und Miss Muff

1780 © nach einem Werk von John Collet.

Es gibt keine Darstellungen der Molly Subkultur des 18 und 19 Jh. Dieses satirische Cartoon von Crossdressers dient hier als spekulativer Platzhalter.

Drehscheibe eines der berüchtigtsten Mollyhäuser der 1720er Jahre – Mother Clap’s – war eine Frau. Die Unternehmerin Margaret Clap brachte der homosexuellen Community große Sympathie entgegen, deckte ihre Kundschaft durch Falschaussagen, und stellte Betten bereit für Männer, die teilweise jahrelang in ihrem Etablissement untergebracht waren. Wie große Teile ihrer Kundschaft wurde sie nach einer Polizeirazzia 1726 an den Pranger gestellt (nicht metaphorisch sondern an den wörtlichen Holzpfosten) und in Folge zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Zwei Männer, die man in flagranti in Mother Clap’s erwischt hatte, wurden gehängt.
Ein ähnliches Ende fand das Molly House von Jonathan Muff alias Miss Muff. Wie Miss Muff nahm auch die übliche Molly Kundschaft gerne blumige und adelige Spitznahmen an. Überliefert sind Berichte von einem Fleischer namens The Duchess of Gloucester, einem Lichtzieher namens Dip-Candle Mary, einem Kellner namens Lady Godiva, einem Seifenhersteller namens Aunt England usw. Miss Muff wurde im Zuge einer Polizeirazzia festgenommen, woraufhin The Weekly Journal or British Gazetteer am 5.10.1728 berichtete:
„On Sunday Night last a Constable with proper Assistants, searched the House of Jonathan Muff, alias Miss Muff, in Black-Lyon Yard, near Whitechapel Church, where they apprehended nine male Ladies, including the Man of the House.“  [Hervorhebung durch die Autorin].

Während Gerichts- und Polizeiakte einen wenn auch sehr unvollständigen Blick in subkulturelle Performance Praktiken homosexueller Männer gewähren, ist über eine mögliche Camp-Praxis von (queeren) Frauen oder aus dem 18. Jahrhundert wenig dokumentiert. Ob Unternehmerinnen wie Margaret Clap, die immerhin ein Molly Haus führte und verwaltete (siehe Bildbeschreibung oben), an den Drag Spektakeln ihres Hauses partizipierte ist nicht bekannt.  Auch welche theatralen Praktiken in den Hinterzimmern bürgerlicher und aristokratischer „Freundinnen“ möglicherweise stattfanden, blieb dem öffentlichen Blick verborgen.  Wenige Überlieferungen aus dem 18. Jahrhundert berichten aber von lesbischen Straßen-Subkulturen unter britischen Prostituierten. Der extrem breite Prostitutionsbegriff dieser Zeit beinhaltet nicht primär Sexarbeit, sondern alle vermeintlichen Übertretungen von Frauen aus der neuen Urban Poor Klasse, die in „ungeregelten“ Verhältnissen lebten. Die ökonomisch schwach gestellten und vulnerablen „Prostituierten“ schlossen sich mitunter zum Selbstschutz in Gruppen zusammen. Als solche arbeiteten sie ohne übergeordneten Pimps, überfielen oft Männer auf der Straße oder entlockten diesen ihre Geldbeutel. Diese Gruppen sind im obigen Kontext insofern interessant, als Mollie (hergeleitet aus Moll – eine low class woman ohne sexuelle Moral) im 18 Jh. gleichzeitig eine Prostituierte und einen homosexuellen Mann bezeichnet. (Erwähnenswert ist hier auch, dass laut Leo Bersani, Prostituierte des 19 Jahrhunderts im öffentlichen Diskurs ähnlich konstruiert wurden wie später Schwule: als ausgestattet mit einer unersättlichen, vernichtend-subjektauflösenden Sexualität. Eine Konstruktion, die sich im Rahmen der AIDS-Epidemie noch verstärkte). Darüber, wann und warum sich die Gäste der Molly Häuser diesen Begriff positiv aneigneten und über Verbindungen, die über die Wortverwandtschaft hinausgehen, kann nur gerätselt werden. Hätten sich diese im Frauenbund zusammengeschlossenen Molls über parodistische Praktiken, wie über jene, der im nächsten Jahrhundert groß gewordenen Männerimitatorin Vesta Tilley amüsiert? Vielleicht wird auch hier eines Tages noch ein Dokument zu Tage gefördert, das queere Geschichte nochmals ähnlich neu schreibt, wie die Entdeckungen des Historikers Channing Joseph. Dieser fand unlängst bei seiner Recherche zu William Dorsey Swann außergewöhnliche Dokumente frühen schwarzen queeren Widerstands in den USA.

House of Swann

William Dorsey Swann (1860-1925) verdient als erste selbsternannte „Queen of Drags“ (ja, die kurzlebige Drag Casting Show von Heidi Klum hieß komischerweise genauso) einen Platz in dieser Geschichte. –  Dass Swann seine ersten Lebensjahre in Maryland in Sklaverei verbringen musste, ist nur der Anfang einer Biografie voll gravierendem Unrecht. Über die Jugend Swanns ist wenig bekannt außer einem Polizeibericht. Darin wird festgehalten, dass Swann versuchte, Bücher aus der Washington Library für seine Weiterbildung zu klauen.

Später veranstaltete Mother Swann in Washington auch Travestie Bälle, in denen unter anderem der „Cake Walk“ getanzt wurde. Solche „Prize Walks“ waren Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Plantagen entstanden. Versklavte machten sich in diesen Tänzen über die festlichen Bräuche und steifen Gepflogenheiten der weißen Sklavenhalter lustig. (Ironie und Dummheit in dieser Geschichte ist, das weiße Blackface Performer diesen Tanz später wiederum bei Minstrel Shows aufgriffen, um schwarze Menschen zu karikieren.) Drag und campe Posen waren immer auch schon von Klassen- und rassifizierenden Konflikten durchzogen (und zwar auf beiden Seiten der Unterdrückung, wie wir später sehen werden).

James Gardiner Collection/eingereicht von Channing Joseph.
Von Swann sind keine Bilder überliefert. Diese symbolische Postkarte von 1903 zeigt eine Drag und Cakewalk Performance.

Bei einem Drag Ball in ihrem Haus wurde Mother Swann gemeinsam mit 17 anderen anwesenden Gästen verhaftet. Swann leistete Widerstand und soll dem amtshandelnden Polizisten „You is no gentleman!“ entgegnet haben. Es folgte eine zehnmonatige Gefängnisstrafe, in deren Rahmen Swann eine schriftliche Selbstverteidigung samt Petition verfasste – eines der ersten LGBTQ-Dokumente dieser Art. Obwohl Freunde zahlreich unterschrieben, blieb die Petition unerhört und der US Staatsanwalt A. A. Birney entgegnete in einem Gutachten: “This petition is wholly without merit. While the charge of keeping a disorderly house does not on its face differ from other cases in which milder sentences have been imposed, the prisoner was in fact convicted of the most horrible and disgusting offences known to the law; an offence so disgusting that it is unnamed. This is not the first time that the prisoner has been convicted of this crime, and his evil example in the community must have been most corrupting.” Was ist dieses unnennbare Verbrechen? Was war Swanns unaussprechliche Übertretung? Fällt es in eine ähnliche Kategorie wie “the love that dare not speak its name”- ein Euphemismus für Homosexualität aus dem Gedicht „Two Loves“ (1892), das Alfred Douglas für seinen Geliebten Oscar Wilde verfasste? Während die Verurteilung von Swann und seinen afroamerikanischen Drag Freunden kaum öffentliche Beachtung erlangte, fand fast zeitgleich in Großbritannien einer der größten Sodomie-Skandale aller Zeiten statt. Auch Alfred Douglas Gedicht über die unaussprechliche Liebe wurde im Prozess gegen Oscar Wilde als Beweismaterial herangezogen. Von diesem handelt unter anderen der dritte und letzte Teil der Camp Stories.

Literatur:

1Rainer Fuchs, »Ornament: Zum Inhalt des Inhaltslosen«, in: Maria Hahnenkamp, hrsg. von Salzburger Kunstverein, Wien: Schlebrügge. Editor 2009, S. 111

2 Booth, Mark: Campe-toi! On the Origins and Definitions of Camp. Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject – A Reader. Ed. Fabio Cleto. Edinburgh: UP, 2008. S.79.

~

„The Raid on Mother Clap’s Molly House“: http://rictornorton.co.uk/eighteen/mother.htm.

Henderson, Tony: Disorderly Women in Eighteen-Century London Prostitution and Control in the Metropolis, 1730-1830. Routledge.1999.

William Dorsey Swann, the Queen of Drag: https://rediscovering-black-history.blogs.archives.gov/2020/06/29/william-dorsey-swann-the-queen-of-drag/

Vinken, Barbara: Angezogen. Das Geheimnis der Mode. Klett-Cota. 2013.