Die Flitter Reihe „Camp Stories“ reist durch frühe queere Unterwelten und fördert eine Genealogie camper Posen zutage. Der erste Teil der Begriffsgeschichte führt vom französischen Königshof zu viktorianischen Drag Queens.
Die Geschichte des Begriffs Camp ist primär eine Geschichte des Verschwindens. Als Geheimpraxis von Personengruppen, die großer Repression ausgesetzt waren und sind, ist seine Bedeutung immanent flüchtig. Camp erscheint punktuell in unterschiedlichsten lokalen Gefügen, verschwindet über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte und taucht ganz woanders mit veränderter Bedeutung wieder auf. Jede Annäherung bleibt daher notwendigerweise fragmentarisch und vieles im Dunkeln.
Sich der Geschichte eines Begriffs anzunähern bedeutet nicht, Verständnis und Bedeutung aus seiner historischen Verwendung herleiten zu wollen. Gerade ein Konzept wie Camp veranschaulicht deutlich, dass Bedeutungen stetem Wandel unterliegen. Alte Nutzweisen zu exhumieren, kann aber mitunter auch heißen, das ans Licht zu ziehen, was eventuell beim heute geläufigen Verständnis von Camp als ironische Pop Ästhetik „mit Liebe zur Künstlichkeit“ auf der Strecke blieb, verloren ging oder unsichtbar ist. Se camper oder to camp war ursprünglich ein Verb, also eine Tätigkeit und genau dieser nachzuspüren ist Inhalt des ersten Teils der Serie.
To Posture Boldly
Die Etymologie des Begriffs „Camp“ ist weitgehend ungeklärt. Vermutlich stammt er entweder vom französischen se camper, was in alten englischen Übersetzungen mit „to posture boldly“ übersetzt wurde oder er wurde vom italienischen campeggiare (deutsch; herausstechen) hergeleitet.
Der erste dokumentierte Auftritt von se camper ist dem Stil entsprechend dramatisch. Genaugenommen erscheint der Terminus in einer Szene aus Les Fourberies de Scapin (deutsch: Scapins Streiche) vonMolière, der damals Hofdramatiker von Ludwig XIV war. Der versponnene Plot dieses 1671 uraufgeführten und von der Commedia dell’Arte – inspirierten Stücks kann an dieser Stelle vernachlässigt werden. Drehpunkt der Handlung ist jedenfalls durch den genre-typischen, gerissenen Diener Scapin gegeben, der die eitlen Machenschaften der Höhergestellten smart unterwandert. In der burlesken Szene instruiert Scapin seinen Kollegen Sylvestre, sich zu verkleiden und zu verstellen, um einem reichen Herren Geld zu entlocken. Er macht ihm vor, wie man sich mit einer aristokratisch-tänzelnden Pose aufspielt: „Camp-toi sur un pied!“, was in der ersten englischen Fassung übersetzt mit: Strut around like a drama king! wurde. Die Körperhaltung, die Scapin hier imitiert, ist wohl eine, die in der europäischen Kunstgeschichte oft bei Zurschaustellung und Inszenierung „männlicher Pracht“ herangezogen wurde (ähnlich auch zu sehen in der Selbstdarstellung von Ludwig XIV). Es kann vermutet werden, dass diese Pose (siehe Bild unten) später als Erkennungszeichen unter männlichen Homosexuellen approbiert wurde.
Original Camp Pose? Eine Hand ist aufgestützt, die andere wird entspannt und schlaff nach vorne gekippt. Das Gewicht ist auf einem Bein, die Hüfte verlagert sich und wird dadurch betont. Man findet die Körperhaltung am häufigsten bei Antonius-Statuen (siehe oben), dem Geliebten Kaiser Hadrians, und einem homoerotischen Idol der Renaissance. Auch bei Hermes Darstellungen ist sie manchmal zu sehen. Es gibt Spekulationen, dass die „Camp Pose“ seit dem 18 Jh. als Erkennungszeichen homosexueller Männer im öffentlichen Raum approbiert wurde. Ähnliche Haltungen und Gebaren werden sehr viel später als Code in den verruchten Straßen um Londons Piccadilly Circus von Quentin Crisp beschrieben.
Ludwig XIV – Portrait von Hyacinthe Rigaud (1701; Museé du Louvre)
Strut around like a Drama King! Hier Ludwig XIV – „der Theaterkönig“ – in repräsentativer Pose, das autokratische Bein staatstragend dargeboten – Oh là là!
Zwischen Scapins Possen-Posen und der nächsten dokumentierten, ähnlichen Verwendung von se camper, liegen fast 200 Jahre. Théophile Gautier war vielleicht von pompösen, jedoch wenig zweckdienlichen Zelten des französischen Militärs beeindruckt, als er se camper zu definieren versuchte. In seinem Degenroman Le Capitaine Fracasse von 1863 beschrieb er Camp wie folgt:
„se camper is to present oneself in an expansive but flimsy manner (like a tent), with overtones here of theatricality, vanity, dressiness, and provocation“.
Le Capitaine Fracasse (1863) [engl. Übersetzung (1998)]
Wenige Jahre nach diesem frühen Definitionsversuch nehmen Camps „provocations“ auf der anderen Seite des Ärmelkanals eine neue Form an. Es manifestiert sich erstmals die historisch beharrliche Verbindung zwischen Camp und Drag bzw. Travestie.
„My campish undertakings“
1870 berichten im viktorianischen Großbritannien alle großen Zeitungen über die Verhaftung der berüchtigten „He She Ladies“ Ernest Boulton and Frederick William Park. Das Drag Performance Duo – besser bekannt als „Fanny and Stella“ – war wegen Sodomie und „Verstoß gegen die öffentliche Moral“ festgenommen worden. Zwar war das Tragen von „Frauenkleidern“ im Rahmen von Bühnenauftritten zur damaligen Zeit nicht verboten. Doch Stella und Fanny waren, nachdem sie bereits monatelang unter Beobachtung gestanden hatten, kostümiert im öffentlichen Raum aufgefunden worden – und zwar in männlicher Begleitung und in einer „kompromittierenden“ Situation.
Zwei Jahre vor diesen Ereignissen verfasste Frederick William Park alias Fanny ein wehmütiges Schreiben an Arthur Clinton. Clinton war ein aristokratischer Politiker und der Geliebte von Ernest Boulton alias Stella und später ebenfalls in den Gerichtsprozess involviert.
Frederick Park/Fanny beklagte darin, mit seinen/ihren nicht näher spezifizierten „campen Unternehmungen“ keinen Erfolg zu haben. Park unterzeichnete den Brief mit „your affectionate sister-in-law“.
Das genaue Antwortschreiben von Fanny auf Arthur Clintons Geburtstagsglückwünsche lautet:
„I cannot echo your wish that I should live to be a hundred, though I should like to live to a green old age. Green did I say. Oh ciel! The amount of paint that will be required to hide that very unbecoming tint. My ‚campish‘ undertakings are not at present meeting with the success they deserve. Whatever I do seems to get me into hot water somewhere. But n’importe. What’s the odds so long as you’re happy? Believe me, your affectionate sister-in-law, Fanny Winifred Park.“
Antwortschreiben von Frederick William Park an Lord Arthur Clinton vom 21.11.1868. (Hervorhebungen durch die Autorin).
Quelle: anonym.
Fanny und Stella in Drag, 1869.
Erst 30 Jahre nach Fannys „campish undertakings“ erfolgt im gerade erst angebrochenen 20. Jahrhundert die erste offizielle Wörterbucheintragung von „camp“. Was bei Théophile Gautier noch „Theatralität“, „Eitelkeit“ und provozierende Übertreibungen war, wird in der Definition von 1905 um „fehlenden Charakter“ („want of character“) ergänzt:
camp (street): Actions and gestures of exaggerated emphasis. Probably from the French. Used chiefly by persons of exceptional want of character. „How very camp he is.“
Passing English of the Victorian Era von James Redding Ware (1905)
Es findet sich also am Beginn des 20 Jh. ein Camp Begriff, der von den theatralen Posen und Aufmachungen am Hofe Frankreichs über aufgezeltete, eitle Provokationen gewandert ist zu einem hier vom viktorianischen Wörterbuch bemängelten Charakter, einem Charakter, der Übertreibungen zugeneigt ist. Es entsteht ab der zweiten Hälfte des 21.Jh nach der Verbreitung von Susan Sontags Notes on Camp (1964) ein erneut transformierter Camp Begriff. Dieser wird in seinem Gebrauch zunehmend verschiedenste postmoderne Spielformen von ironischen Flohmarkteinkäufen bis zum Sammeln anachronistischer Hollywood-Memorabilia miteinschließen.
Ziemlich genau auf halbem Wege zwischen diesen beiden historischen Abschnitten erfolgt 1937 eine zweite formelle Wörterbucheintragung von Camp, die die längst vermutete Geheimverbindung nun erstmals offiziell macht:
“camp: effeminate, esp. homosexual mannerisms of speech and gesture”
– Eric Patridges Dictionary of Slang and Unconventional English, 1937
An dieser Stelle scheint es angebracht, ein paar Schritte zurückzugehen und über die Unbekannten zwischen Camps spärlich dokumentierten, nur punktuellen Erwähnungen zu spekulieren: Wie zum Beispiel wurden aus der theatral-eitlen Dressiness, also modischer Eleganz, die Théophile Gautier Camp zuschrieb, eine (homosexuell besetzte) Effeminacy, also „Verweiblichung“ oder „Verweichlichung“?
Die Verbindung des Modisch-Repräsentativen mit „Verweiblichung“ ist nur im Kontext grundlegender Wandlungen bürgerlich-europäischer Werte zu verstehen, und deren überformten gegenderten Körper-Inszenierungen, die an diese geknüpft sind. Der zweite Teil der Flitter Camp Stories versucht dieser Verbindung auf den Grund zu gehen.
Literatur:
Booth, Mark: Campe-toi! On the Origins and Definitions of Camp. Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject – A Reader. Ed. Fabio Cleto. Edinburgh: UP, 2008
Boltin, Andrew et. al. (Hg.): Camp: Notes on Fashion. Metropolitan Museum of Art, 2019.
Molière: The Impostures of Scapin. Les Fourberies de Scapin. Akt 1, Szene 7. 1671.
Teil zwei der Flitter Camp Stories führt in die Molly Häuser Londons und in das „House of Swann“ in Washington. Im Anschluss an den letzten Teil der Serie suchen wir zunächst das Camp-„Fantasma Versailles“ auf.
Drama Kings – Drama Queens.
Der bisherige Abriss zur Begriffsgeschichte Camps führt von (schein)-aristokratischen theatralen Posen in Versailles über die genderqueeren „Unternehmungen“ viktorianischer Drag Queens zu Übertreibungen mangelhafter Charaktere; Exceptional want of character – etwas Abwesendes, Unsichtbares wirft sich repräsentativ in Schale, „donnert sich auf“.
Es ist davon auszugehen, dass frühe anglophone queere Subkulturen den nach bürgerlichen Normen zunehmend als frivol und „effeminiert“ geltenden aristokratischen Geschmack approbierten: Posen, Pomp und (offensichtlicher) Manierismus werden zur geheimen Ausdrucks-, und Verständigungsform, insbesondere -jedoch nicht nur – durch homosexuelle Männer.
Immer wieder dienen im Laufe der (Mode-)Geschichte dekorativer Exzess, das Protzige, das müßig-luxuriös Überflüssige (oder was als solches rezipiert wird) als Referenzpunkt anti-bürgerlicher Ästhetiken – wie später auch zu finden bei manchen proletarischen Jugend-Subkulturen. Prunk, Theatralität und Ornament eignen sich, sobald von ihrer ursprünglichen repräsentativen Funktion befreit, als „Darstellungsmittel individueller Phantasien, Mythologien, Tagträumen und unverschlüsselter Sinnlichkeit“1.Laut Marc Booth dient der Fantasieraum Versailles (versus dem konkreten Versailles als Ort historischer Macht und Gewaltausübung) als häufiger Referenzpunkt von Homo-Protocamp – also „excessive dress, emphasis on social performance and display, cultivated poise“.
Kostümstudie: Bibliothèque Nationale de France
Ludwig XIV. der balletttanzende Sonnenkönig.
Fashion-Queen Marie-Antoinette mit Drag Hair- wahrscheinlich von ihrem Lieblingsfriseur Léonard-Alexis Autié, besser bekannt als Monsieur Léonard. Diesen „Sohn einfacher Kaufleute“ erhob sie zum Star und räumte ihm sogar teilweise Privilegien gegenüber dem Hofstaat ein. Marie Antoinette überdauert im kulturellen Bewusstsein – den fingierten Kuchen sei Dank – als Inbegriff von „privilegien-ignorant“ (was sie, genauso wie die meisten adeligen Machthaber_innen, wahrscheinlich auch war). Doch nicht nur das. Laut Barbara Vinken spukt sie vor allem als misogyn geprägte Vorstellung einer „weibischen“ lustbesessenen Aristokratie durch die Jahrhunderte; als Gegenentwurf zur bescheidenen „Mutter und Hausfrau“ wie auch zu bürgerlicher Tugendhaftigkeit.
Was die Camp Imagination interessiert ist nicht das tatsächliche imperiale Versailles, wo der Prunk noch eine politische Funktion hatte. Es sind auch nicht konkrete historische Personen und Referenzen; Es ist nicht der Ballett-König Ludwig XIV, der Politik und Pomp als Gesamtkunstwerk, mit ihm selbst in der Hauptrolle, inszenierte. Es ist nicht mal sein Bruder Philippe von Orléans, dessen notorisches Cross-Dressing in den Transvestite Memoirs of The Abbe de Choisy (1737) festgehalten ist. Es ist auch nur sehr bedingt das phantasmagorische kulturelle Nachleben von Marie Antoinette, die mit ihren modischen Improvisationen unabsichtlich die „gottgewollte“ Ordnung dekonstruierte (denn sie trug Unterwäsche als Überwäsche und mixte in ihrem Stil „Herrscherin“, „Schauspielerin“, und „Mätresse“).
Es ist laut Marc Booth nicht das echte Versailles als „symbol of decorative absolutism“, das die frühe Camp Fantasie beflügelt, sondern ein imaginäres Camp-Versailles als „symbol of absolute decorativism“2. Zu Deutsch; Frühe queere Camp-Subkulturen imaginieren den dekorierten Absolutismus zu einer Verabsolutierung des Dekorativen.
Ich würde dem hinzufügen, dass es hier nicht um das Primat des Dekorativen geht, also nicht darum, dekorativen Stil über einen als Gegensatz konstruierten Inhalt oder Essenz zu stellen. Es geht darum, dass dekorative Ornamente und theatrale Maskeraden im Laufe der Zeit für Neubesetzung und spielerisch humorvolle Aneignungen und Zurückweisungen frei geworden sind.
André-Charles Boulle, Commode Mazarin, 1708.
Louis Quatorze Stil
Die zunehmende bürgerliche Bewertung des Repräsentativ-Dekorativen als „weibisch“ verdient gesonderte Aufmerksamkeit. Sie scheint darauf zurückzugehen, dass man die „schöne“ modische Repräsentation, in dem Moment, wo sie von der Macht entkoppelt wurde, an Frauen delegierte. Das neue bürgerlich männliche Macht-Subjekt ist ganz Interiorität, Arbeit am Geistigen. Männer erscheinen nicht mehr, sie sind einfach. Der mächtige bürgerliche weiße Mann verschwindet zunehmen für lange Zeit körperlos und unsichtbar im anonym-neutralen Anzug. Körper, die „angesehen werden“ sind die Körper der „anderen“: Frauen, Schwule, diverse kolonisierte und rassifizierte Andere, nur gelegentlich ist auch der modelos-maskuline nackte Arbeiter als Kraftmaschine Gegenstand der Betrachtung…no homo natürlich!
Angesehen zu werden ist „effeminierend“. Die modische Pracht, die an körperliche Metamorphosen, und das Verwiesensein auf andere erinnert, droht lächerlich, „tuntig“ zu sein. Von der Macht entkoppelt, wird das modisch-erotische Zeigen daher pretty, gefällig oder fetisch-förmig auf kontrollierte Weise steril normiert…ein Spektakel, das selbst ohne Blick ist.
Heutige campe Drag Kings und Queens, aber auch die campen Diven vieler Schaubühnen, erzählen von Spektakeln, die zurückschauen, mit Erwartungen spielen, uns amüsiert zusehen, wie wir sie anschauen. Sie sind umhüllt von prächtigen Maskeraden, die raumgreifend und raumgestaltend sind, Distanz und Aufmerksamkeit schaffen. Sie können gleichzeitig grotesk und lieblich, mächtig und pretty sein, voll geistreichem Witz und komischer Körperlichkeit. Camp verunreinigt hierarchisch aufgeladene ästhetische Grenzen. Es bleibt noch die Frage offen, in welchen subkulturellen Formationen die von Booth herangezogene frühe Proto-Camp Kultur sich (trans-)formierte und weitertrug. Als zentraler Schauplatz der „effeminate“- und homosexuellen Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts mögen die Mollie Häuser hier eine wichtige Rolle gespielt haben.
Die Kultur der Molly Häuser florierte ab ca. 1700 als Hort früher Camp Praxen, Drag-Shows und Wettbewerbe, die auch die Hinterzimmer für sexuelle Kontakte homosexueller und gender-nonkonformer Männer bereit stellten.
„Mollyhouses“ waren auch jene erstaunlich klassenübergreifenden Schauplätze diverser trans- und genderqueeren Expressionen, über die wahrscheinlich Fanny und Stella (siehe Teil 1), das Wort „camp“ erreichte. Die Hinterstuben der Molly Coffeehouses die von 1800-1830 ihre Hochblüte erlebten, waren mit eigenen Kapellen für rituelle symbolische, wie auch parodistische Hochzeiten ausgestattet.
In kommunalen identitäts-stiftenden wie -hinterfragenden Praktiken wurden in theatralen Schutzräumen alternative Wahlfamilien aus „Sisters“, „Husbands“, „Mothers“, „Children“ gegründet und erprobt. Hier gibt es sicher eine Kontinuität von den Molly Houses zu den legendären latin- und afroamerikanischen „Houses“ in New Yorks Harlem. Viele Konstanten queerer Perfomance-Kulturen scheinen bis zu den Mollies zurück zu reichen: theatrale Rollenspiele als Form von Selbstbestimmung, Selbsterneuerung und Sichtbarkeit, wo sich verbindliche und parodistische Elemente spielend finden. Charakteristisch ist auch der fluide Übergang zwischen Publikum und Performenden.
Es gibt keine Darstellungen der Molly Subkultur des 18 und 19 Jh. Dieses satirische Cartoon von Crossdressers dient hier als spekulativer Platzhalter.
Drehscheibe eines der berüchtigtsten Mollyhäuser der 1720er Jahre – Mother Clap’s – war eine Frau. Die Unternehmerin Margaret Clap brachte der homosexuellen Community große Sympathie entgegen, deckte ihre Kundschaft durch Falschaussagen, und stellte Betten bereit für Männer, die teilweise jahrelang in ihrem Etablissement untergebracht waren. Wie große Teile ihrer Kundschaft wurde sie nach einer Polizeirazzia 1726 an den Pranger gestellt (nicht metaphorisch sondern an den wörtlichen Holzpfosten) und in Folge zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Zwei Männer, die man in flagranti in Mother Clap’s erwischt hatte, wurden gehängt. Ein ähnliches Ende fand das Molly House von Jonathan Muff alias Miss Muff. Wie Miss Muff nahm auch die übliche Molly Kundschaft gerne blumige und adelige Spitznahmen an. Überliefert sind Berichte von einem Fleischer namens The Duchess of Gloucester, einem Lichtzieher namens Dip-Candle Mary, einem Kellner namens Lady Godiva, einem Seifenhersteller namens Aunt England usw. Miss Muff wurde im Zuge einer Polizeirazzia festgenommen, woraufhin The Weekly Journal or British Gazetteer am 5.10.1728 berichtete: „On Sunday Night last a Constable with proper Assistants, searched the House of Jonathan Muff, alias Miss Muff, in Black-Lyon Yard, near Whitechapel Church, where they apprehended nine male Ladies, including the Man of the House.“[Hervorhebung durch die Autorin].
Während Gerichts- und Polizeiakte einen wenn auch sehr unvollständigen Blick in subkulturelle Performance Praktiken homosexueller Männer gewähren, ist über eine mögliche Camp-Praxis von (queeren) Frauen oder aus dem 18. Jahrhundert wenig dokumentiert. Ob Unternehmerinnen wie Margaret Clap, die immerhin ein Molly Haus führte und verwaltete (siehe Bildbeschreibung oben), an den Drag Spektakeln ihres Hauses partizipierte ist nicht bekannt. Auch welche theatralen Praktiken in den Hinterzimmern bürgerlicher und aristokratischer „Freundinnen“ möglicherweise stattfanden, blieb dem öffentlichen Blick verborgen. Wenige Überlieferungen aus dem 18. Jahrhundert berichten aber von lesbischen Straßen-Subkulturen unter britischen Prostituierten. Der extrem breite Prostitutionsbegriff dieser Zeit beinhaltet nicht primär Sexarbeit, sondern alle vermeintlichen Übertretungen von Frauen aus der neuen Urban Poor Klasse, die in „ungeregelten“ Verhältnissen lebten. Die ökonomisch schwach gestellten und vulnerablen „Prostituierten“ schlossen sich mitunter zum Selbstschutz in Gruppen zusammen. Als solche arbeiteten sie ohne übergeordneten Pimps, überfielen oft Männer auf der Straße oder entlockten diesen ihre Geldbeutel. Diese Gruppen sind im obigen Kontext insofern interessant, als Mollie (hergeleitet aus Moll – eine low class woman ohne sexuelle Moral) im 18 Jh. gleichzeitig eine Prostituierte und einen homosexuellen Mann bezeichnet. (Erwähnenswert ist hier auch, dass laut Leo Bersani, Prostituierte des 19 Jahrhunderts im öffentlichen Diskurs ähnlich konstruiert wurden wie später Schwule: als ausgestattet mit einer unersättlichen, vernichtend-subjektauflösenden Sexualität. Eine Konstruktion, die sich im Rahmen der AIDS-Epidemie noch verstärkte). Darüber, wann und warum sich die Gäste der Molly Häuser diesen Begriff positiv aneigneten und über Verbindungen, die über die Wortverwandtschaft hinausgehen, kann nur gerätselt werden. Hätten sich diese im Frauenbund zusammengeschlossenen Molls über parodistische Praktiken, wie über jene, der im nächsten Jahrhundert groß gewordenen Männerimitatorin Vesta Tilley amüsiert? Vielleicht wird auch hier eines Tages noch ein Dokument zu Tage gefördert, das queere Geschichte nochmals ähnlich neu schreibt, wie die Entdeckungen des Historikers Channing Joseph. Dieser fand unlängst bei seiner Recherche zu William Dorsey Swann außergewöhnliche Dokumente frühen schwarzen queeren Widerstands in den USA.
House of Swann
William Dorsey Swann (1860-1925) verdient als erste selbsternannte „Queen of Drags“ (ja, die kurzlebige Drag Casting Show von Heidi Klum hieß komischerweise genauso) einen Platz in dieser Geschichte. – Dass Swann seine ersten Lebensjahre in Maryland in Sklaverei verbringen musste, ist nur der Anfang einer Biografie voll gravierendem Unrecht. Über die Jugend Swanns ist wenig bekannt außer einem Polizeibericht. Darin wird festgehalten, dass Swann versuchte, Bücher aus der Washington Library für seine Weiterbildung zu klauen.
Später veranstaltete Mother Swann in Washington auch Travestie Bälle, in denen unter anderem der „Cake Walk“ getanzt wurde. Solche „Prize Walks“ waren Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Plantagen entstanden. Versklavte machten sich in diesen Tänzen über die festlichen Bräuche und steifen Gepflogenheiten der weißen Sklavenhalter lustig. (Ironie und Dummheit in dieser Geschichte ist, das weiße Blackface Performer diesen Tanz später wiederum bei Minstrel Shows aufgriffen, um schwarze Menschen zu karikieren.) Drag und campe Posen waren immer auch schon von Klassen- und rassifizierenden Konflikten durchzogen (und zwar auf beiden Seiten der Unterdrückung, wie wir später sehen werden).
James Gardiner Collection/eingereicht von Channing Joseph. Von Swann sind keine Bilder überliefert. Diese symbolische Postkarte von 1903 zeigt eine Drag und Cakewalk Performance.
Bei einem Drag Ball in ihrem Haus wurde Mother Swann gemeinsam mit 17 anderen anwesenden Gästen verhaftet. Swann leistete Widerstand und soll dem amtshandelnden Polizisten „You is no gentleman!“ entgegnet haben. Es folgte eine zehnmonatige Gefängnisstrafe, in deren Rahmen Swann eine schriftliche Selbstverteidigung samt Petition verfasste – eines der ersten LGBTQ-Dokumente dieser Art. Obwohl Freunde zahlreich unterschrieben, blieb die Petition unerhört und der US Staatsanwalt A. A. Birney entgegnete in einem Gutachten: “This petition is wholly without merit. While the charge of keeping a disorderly house does not on its face differ from other cases in which milder sentences have been imposed, the prisoner was in fact convicted of the most horrible and disgusting offences known to the law; an offence so disgusting that it is unnamed. This is not the first time that the prisoner has been convicted of this crime, and his evil example in the community must have been most corrupting.” Was ist dieses unnennbare Verbrechen? Was war Swanns unaussprechliche Übertretung? Fällt es in eine ähnliche Kategorie wie “the love that dare not speak its name”- ein Euphemismus für Homosexualität aus dem Gedicht „Two Loves“ (1892), das Alfred Douglas für seinen Geliebten Oscar Wilde verfasste? Während die Verurteilung von Swann und seinen afroamerikanischen Drag Freunden kaum öffentliche Beachtung erlangte, fand fast zeitgleich in Großbritannien einer der größten Sodomie-Skandale aller Zeiten statt. Auch Alfred Douglas Gedicht über die unaussprechliche Liebe wurde im Prozess gegen Oscar Wilde als Beweismaterial herangezogen. Von diesem handelt unter anderen der dritte und letzte Teil der Camp Stories.
Literatur:
1Rainer Fuchs, »Ornament: Zum Inhalt des Inhaltslosen«, in: Maria Hahnenkamp, hrsg. von Salzburger Kunstverein, Wien: Schlebrügge. Editor 2009, S. 111
2 Booth, Mark: Campe-toi! On the Origins and Definitions of Camp. Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject – A Reader. Ed. Fabio Cleto. Edinburgh: UP, 2008. S.79.
Der zweite Teil der Camp Stories endete mit den laut US Staatsanwaltschaft „unausprechlichen Verbrechen“ der Queen of Drags William Dorsey Swann. „The love that dare not speak its name” wird uns nun auch im dritten und letzten Teil beschäftigen. Wir beginnen mit den dandyistischen Posen Oscar Wildes und marschieren durch das Nachtleben der „theatrical types“ bis zum Stonewall Inn.
Wilde Posen
Während die meisten bisher besprochenen Camp Praktiken im Untergrund stattfanden, war Oscar Wilde (1854-1900) einer der meist gefeierten und berühmtesten Autoren und Dramatiker im spätviktorianischen London. Für seinen Witz, seine Selbstinszenierung und seine rhetorische Schlagkraft gilt er noch heute als prototypischer Dandy-Ästhet. Seine Extravaganz, seine Fähigkeit zur moralischen Veruneindeutigung trafen während der Abkehr von viktorianischen Werten zum Fin de Siècle einen Nerv. Wilde legte die Bigotterie und Maskeraden der Upper Class offen und wurde von eben dieser dafür gefeiert. Dass die Double Entendres, Posen und Allüren, über die man sich so köstlich amüsierte, auch ästhetische Praktiken des Closets waren, blieb den meisten verborgen…
Die dandyistische Idee, ästhetische Artifizialität in persönliche Lebensgestaltung und Selbstinszenierung einfließen zu lassen, schien zu Wildes Zeiten radikal und chic. Dass hier vor allem unbewusste, artifiziell kulturelle Setzungen durch bewusste ästhetische Entscheidungen ausgetauscht wurden, ist dabei ein wichtiger Aspekt im Nachleben des WildeanStyles. Dieser zeigt sich besonders, wenn er Natürlichkeit als „die nervigste Pose“ bezeichnet, oder, wie er einer Figur in The Ideal Husband in den Mund legt:
„To be natural is such a very difficult pose to keep up”
Oscar Wilde: An Ideal Husband
Obwohl Wilde den Begriff „camp“ selber nie verwendete, sind es Aussagen wie diese, die Susan Sontag dazu veranlasste, ihre einschlägigen Notes On Camp Oscar Wilde zu widmen und mit seinen Zitaten zu versehen – wie zum Beispiel dem Klassiker: „one should either be a work of art, or wear a work of art“.Auch dies trug dazu bei, dass sein Name so tief mit Camp verbunden bleibt. Wildes Dandyismus ist dabei vielleicht weniger „depolitized“ und „detached“ als Sontag Camp im Allgemeinen zugestehen mag. Wenn er „Natürlichkeit“ als enervierendste Pose bezeichnet, teilt er sich auch aus einer queer-marginalisierten Wissens-Perspektive mit.
Alla Nazimova in Salomé (1923)
Obwohl die Mehrheit nichts ahnte, war Oscar Wildes campy Stil unter urbanen Homosexuellen wohl durchaus als „sexuell deviant“ kodiert lesbar. Gewisse stilistische Elemente mögen wohl aus der Subkultur gekommen sein, auch wenn er ihnen zweifellos einen eigenen Charakter gab und er ihr berühmtestes Aushängeschild wurde. Unter eingeweihten homosexuellen Zeitgenoss_innen hatte er jedenfalls eine hohe Resonanz – und das nicht nur bei schwulen Männern. Seine campe, verschlingend-begehrende Salome war ein so beliebtes Motiv unter homo- und bisexuellen Frauen, dass von einer regelrechten „Salomania“ gesprochen wurde. Die lesbische kanadische Tänzerin Maud Allan wurde für ihre Salome Interpretation 1906 bezichtigt, dem „cult of clitoris“ anzugehören. 1923 produzierte Alla Nazimova eine Verfilmung von Wildes Salome (siehe Bild), in der sie auch die Hauptrolle übernahm. An der Herstellung des Stummfilms waren bekanntlich nur Homo- und Bisexuelle beteiligt. Das erstaunliche Set Design von Natascha Rambova war lose von Aubrey Beardsleys Salome-Illustrationen für Wilde inspiriert. Beardsley, der dem Kreis des Yellow Book verbunden war, ist Aushängeschild des – sicher auch von orientalisierenden Projektionen geprägten – Decadence-Stils. Ähnlich wie bei Wilde haben auch Stilelemente von Beardley einen langen Nachhall in queerer Kunst. Typisch für seine Werke sind Menschen und Kreaturen, die sich in Girlanden verbinden und oder in Ornamenten auflösen.
Im Fin de Siècle war es mit dem Wildeschen Camp Craze schnell vorbei, sobald das Geheimnis seiner Sexualität offengelegt war. Wie die meisten der hier beschriebenen Geschichten endet auch diese mit einer Verhaftung. Wilde wurde wegen „gross indecency“ zu zwei Jahren harter Strafarbeit verurteilt. Von diesem jähen, drastischen Fall erholte er sich als Autor nicht mehr.
Heute hat er auch popkulturell einen festen Platz in der Genealogie camper Poser_innen. Er wurde zum Prototyp des theatrical types was neben the love that dare not speak its name noch so ein Euphemismus für Homos ist.
“He’s a disco-dancing, Oscar Wilde-reading, Streisand ticket-holding friend of Dorothy, know what I’m saying?”
Clueless, 1999
Theatrical Types galore!
Der bisherige Abriss hat gezeigt, dass die queere Praxis des se camper dem Theatralen tief verbunden ist. Dass Theatrical Types einmal ein Euphemismus für unaussprechliche sexuelle Orientierungen und Identitäten war, scheint unter diesem Gesichtspunkt passend.
Die hohe Dichte von Homos in Theaterwelten hat sicher auch mit den größeren Freiräumen zu tun, die historisch in diesen gegeben waren. Campe Ausdrucksformen gedeihen in einem Spannungsfeld von Rampenlicht und geheimen Codes, sie „verstecken sich im Licht“1.Dieses Spannungsfeld mag als kleinster gemeinsamer Nenner für die „hochkulturellen“ Bühnen von Oscar Wilde und Sarah Bernard genauso existiert haben, wie für LGBTQ Perfomer_innen auf Wiener Volksbühnen [siehe dazu unten Josefine Schmer] oder in räudigeren Zirkuswelten. Innerhalb Letzter entwickelte sich ja die spätere queere Slang-Sprache Polari. Gerade für mehrfach Diskriminierte war aber das Performen oft einzige Möglichkeit, zumindest eine gewisse Art von Anerkennung, Autonomie und finanzieller und physischer Mobilität zu erlangen.
Subkulturen, wie die oben beschriebenen Mollies und jene um Mother Swann, zeigen aber noch einen anderen Aspekt des Theatralen: einen Möglichkeitsraum zur Verständigung von Rollen und deren Erneuerung, einen Ort der Selbst-Dramatisierung und des sich Ausstattens mit Signifikanten von erotischer und repräsentativer Macht: Se camper; to strut around like a drama king. Das Parodistische ist dabei nur ein möglicher Aspekt. Anders als geläufige dekonstruktivistische Zugänge suggerieren, geht es bei Camp nicht nur um das Theatrale als ein (parodistisches) Dekonstruieren von sozialen Rollen. Es geht, wie Matthias Haase betont, auch um Rollenspiel als eine transformierende Art von sozialem Leben.2
„Vom Deckel des glänzenden Zylinderhutes bis zu den Lackstifletten war die Schmer der getreue Abklatsch des typischen „Hausherrnsohnerls“. (Koller, 1931) Die „Herrendarstellerin“ Josefine Schmer (1841-1904) verkörperte unterschiedliche Männertypen, darunter auch den Wiener Fiaker. Da man in Wien gerne Ausnahmen macht, bekam die gendernonkonforme Josefine Schmer eine polizeiliche Sondergenehmigung, um auch außerhalb ihrer Auftritte „Herrenkleidung“ tragen zu dürfen. Zigarre rauchend sang sie oft „Liebeslieder an die Maderl“. In Das Wiener Volkssängertum in alter und neuer Zeit schrieb Josef Koller 1931 über Schmer: „Es verdient bemerkt zu werden, dass sie im vorigen Jahrhundert die erste war, die männliche Gestalten aus den unteren Volksschichten lebensgetreu verkörperte und auf den verdorbenen Geschmack des Wirtshauspublikums günstig einwirkte“
Se camper mag am Hof von Versailles seinen begrifflichen Anfang nehmen. Doch zu Beginn des 20 Jahrhunderts ist Camp zu den Kings und Queens der Varietés, Vaudeville-Theater und Cabaret Bühnen abgewandert. Diese florieren in europäischen Großstädten wie Paris, Wien, Berlin, London. In New York blüht die queere Kultur der Harlem Renaissance, wo Gladys Bentley mit ihren Butch Performances strahlt und wo die von Langston Hughes festgehaltenen Drag Bälle stattfinden. Zeitgleich triumphiert im Greenwich Village der berühmte Crossdresser Bert Savoy mit schlüpfrigen Witzen und als Erfinder zahlreicher Catchphrases wie „You slay me!“. Die große Mae West wird sich bei ihrem Image später von ihm inspirieren lassen. Im Pariser Moulin Rouge tanzt in den 1920erndie Trapez-Drag Queen Barbette durch die Luft, die Jahre später genervt vom Set zu Billy Wilders Some Like It Hot davonstürmen wird. Dort, als Coach beschäftigt, scheiterte sie daran Jack Lemmon Drag Kultur näher zu bringen. Ebenfalls im Moulin Rouge führen Colette und ihre in „male drag“ gekleidete Partnerin einen lesbischen „egyptian dream“ auf.
In den Burlesque-Experimenten von Lydia Thompsons British Blondes oder Eva Tanguay gedeiht unterdessen so etwas wie eine proto-popfeministische Camp Ästhetik.
Exotismus, Slumming und Minstrelsy sind mit diesen Bühnenwelten genauso intrinsisch verwoben wie deren Subversion und Veräppelung. Swanns Cake Walks und die blumig-adeligen Spitznamen der Mollies zeigen, dass Drag und Camp schon immer auch von Klassen- und rassifizierenden Thematiken durchzogen waren. Dies trifft auch auf die Bühnen des frühen 20. Jahrhundert zu, und zwar auf beide Seiten der Unterdrückung.
Um 1910 war Aida Overton Walker die „Queen of Cake Walk“ (auf den Cake Walk wurde bereits in Teil 2 bezuggenommen) und performte auch als Drag King. Sie teilte sich die Bühne oft mit Bert Williams, einem der berühmtesten schwarzen Bühnenstars. In dieser Zeit gehörte Minstrelsy zu den beliebtesten Unterhaltungsformen. Als eine Art schwarzer Blackface Performer hatte Bert Williams limitierte Möglichkeiten, die Zuschreibungen des weißen Publikums innerhalb dieses Rahmens zu unterwandern. Er subvertierte Blackface Konventionen aber musst sich diesen gleichzeitig doch auch bis zu einem gewissen Grad anpassen. (Man denke in diesem Zusammenhang auch an Josephine Baker, die rassistische US-amerikanische Performance-Konventionen mit ihrer künstlerischen Virtuosität so überformte, dass dies in Europa als modernistischer „Primitivismus“ missverstanden wurde.)
Camp und Drag Performances können in ihren jeweiligen Aufführungskontexten und historischen Gefügen unterschiedliche Funktionen erfüllen. Ob der parodistische Anteil von Camp Häme oder progressive Unterwanderung ist, ob Aneignung von oben oder unten kommt, ist nur von Fall zu Fall und manchmal auch gar nicht klar zu bestimmen. Ebenso lassen sich die (erotischen) Identitätsentwürfe historischer subkultureller Drag Praxen nicht ohne weiteres in zeitgenössische Verständnisse von „genderqueerness“ transferiere – zumindest nicht ohne einen unübersetzbaren Rest.
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Was jedenfalls im frühen 20 Jahrhundert noch als camping auf den Bühnen diverser europäischer Hauptstädte floriert haben mag, wurde in den 30ern vom Nationalsozialismus weitgehend gestoppt, während in den USA der „Pansy Craze“ zunehmend durch McCarthyismus und Zäsur „reguliert“ wurde.
Später wird camp in veränderter Bedeutung wieder zurückkehren und wird nun das ironische Erleben von historischen, pop- und alltagskulturellen Stilen, einer Erlebnisweise, von der Susan Sontag 1964 meinte, Homosexuelle seien ihre eher zufällige Speerspitze und „most articulate audience“.
Seit Sontags Veröffentlichung wird Camp immer wieder für Tod oder over erklärt. Die ostentativen Posen, die flüchtig-performativen Selbstentwürfe wären „von falscher Seite vereinnahmt worden“, oder camp insgesamt zu „Mainstream verkommen“ (meist ohne Mainstream oder verkommen näher zu definieren). Camp is dead because Madonna turned deviance into a theme park, hieß es 1993 in einem New Yorker Artikel. Donald Trump hijacked Camp verkündigte fast 20 Jahre später der Atlantic. Richard Dyer meinte wiederum schon 1977, dass Homosexuelle kulturell oft auf ähnliche Weise auf camp festgeschrieben werden würden, wie Afroamerikaner_innen auf soul3.
Die geschichtsträchtigen Stonewall Riots sind übrigens keine Bewegung, die aus den zeitgleich existierenden, konformistischeren Schwulen und Lesben -Bürgerrechtsinitiativen hervorging. Das Stonewall Inn war ein Rückzugsort für Drag Queens, Crossdresser, Butches, PoC-Transpersonen, street fairie und wohnungslosen LGBTQI Personen. Es geschah hier, dass nach einer weiteren Polizeirazzia in dieser langen Repressions- und Gewaltgeschichte, nach einer Polizeischikane zuviel, Protestierende wie Stormé DeLarverie und Marsha P. Johnson die ersten Ziegelsteine warfen.
2 Haase Matthias: ‚Histories that are Written in the Night‘. In: Golden Years. Materialien und Positionen zu Queerer Subkultur und Avantgarde zwischen 1959 und 1974. Edition Camera Austria, 2006.
3 Dyer Richard: ‚It’s Being So Camp as Keeps Us Going‘. In: Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject – A Reader. Ed. Fabio Cleto. Edinburgh: UP, 2008.
Die neue Reihe Die Camp Sensibility setzt die Begriffs- und Diskursgeschichte von Camp bis in die 60er Jahre fort. In der zweiten Hälfte des 21 Jahrhunderts wird „Camp“ vor allem ein Rezeptions- aber auch Gestaltungsmodus im Umgang mit kulturindustriellen Produkten, Stars und Designs aus Pop- und Alltagskultur. In diesem Kontext formuliert Susan Sontag „Camp“ erstmals als „Erfahrungsweise“. Im ersten Teil der Reihe geht es um einen Marlene Dietrich Darsteller und der Resonanz der Fimdiva in queeren US-Avantgarden.
In den vorangegangen Camp Stories wurde Camp als Konglomerat aus homosexuell kodierten Posen, Drag und gender-nonkonformen Performance Praxen früher queerer Subkulturen vorgestellt. Diese „historische“ Konzeption von Camp wird nie verschwinden und zeigt bis heute durchaus eine Kontinuität. Doch um die Mitte des 20. Jahrhunderts kommt eine weitere Bedeutung von „campy“ hinzu. Sie erfasst unter anderem kulturelle Objekte, die an konventionellen Produktionsstandards scheitern: misslungenes Schauspiel, überspitzte Details, stilistische und charakterliche Eigenheiten, ungeplante Produktionsspuren. „Campy“ beschreibt außerdem auch kulturelle Objekte die durch Geschichte eher komisch statt kanonisch geworden sind. Eigenheiten und Inkongruenzen dieser Art werden in Camp-Rezeptionsakten herausgearbeitet, aus denen wiederum eigene Kreation und Werke entstehen können. Sie werden Sinnbilder verdrängter Inhalte und aus der „normalen“ Kulturproduktion ausgeschlossener Fantasien, Erfahrungen, und marginalisierter Lebensweisen.
Isherwood vs. Dietrich Boy.
Der gute Camp sei nicht geplant sondern „innocent“ und passiere unwillkürlich. Dies ist wohl eines der widersprüchlichsten und kontroversielleren Statements in Susan Sontags „Notes On Camp“. Vielleicht wollte Sontag den zärtlichen Camp-Blick auf Objekte, die an kulturindustriellen Standards scheitern, von einem kalkulierten ironischen Chic abgrenzen. Vielleicht wollte sie Camp von einem Verständnis erretten, zu dem Sie selber beitrug, als sie meinte, Camp sei distanziert und unpolitisch (und Homosexuelle Camps quasi-zufällige Pioniere). Doch bei der Trennung in unwillkürliche Camp-Objekte und eine bewusste, reflektierende Rezeption schuf diese nicht nur eine Dualität, die den Facetten vieler Camp-Phänomene nicht gerecht wird. Sie bagatellisiert auch all die in den vorangegangenen Texten beschriebenen LGBTQ Traditionen die unter camping zusammengefasst werden können. Damit war Sontag nicht die erste —
“A swishy little boy […] pretending to be Marlene Dietrich? Yes, in queer circles, they call that camping. It’s all very well in its place but it’s an utterly debased form.”
Christopher Isherwood: The World in The Evening (1954)
In seinem semi-autobiografischen Roman The World in The Evening (1954), der zur Zeit des zweiten Weltkriegs spielt, schuf Christopher Isherwood 1954 eine merkwürdige Hierarchisierung zwischen High und Low Camp. In einer Unterhaltung zwischen zwei Männern wird das camping des queeren Nachtlebens als „Low Camp“ klassifiziert:
„In any of your voyages au bout de la nuit, did you ever run across the word camp?”
“I’ve heard people use it in bars. But I thought —?”
“You thought it meant a swishy little boy with peroxided hair, dressed in a picture hat and a feather boa, pretending to be Marlene Dietrich? Yes, in queer circles, they call that camping. It’s all very well in its place but it’s an utterly debased form.”
Isherwood (1954)
Der Junge mit dem gebleichten Haar, der sich hier als Marlene Dietrich gibt, praktiziere also die „minderwertige“ Form von Camp. Wie schon Susan Sontag sich Camp mit einer Aufzählung von Gegenständen anzunähern versucht (La Lupe, Tiffany Lampen, Flash Gordon comics, u.a.), hat Isherwoods eine noch viel erratischere Liste für seinen vermeintlichen High Camp Kanon, den er campen Vergnügungen des queeren Nachtlebens entgegensetzt: Baroque Art, Ballett, Mozart, Freud, Dostojewski. Der hohe Camp hätte eine „unterschwellige Ernsthaftigkeit“. Man drücke etwas, was einem eigentlich wichtig scheint, durch verspielte Künstlichkeit und „Fun“aus. Doch warum soll diese Beschreibung nicht auch auf den „swishy“ (deutsch: tuntigen) Dietrich-Jungen zutreffen? Das Isherwoods Text dessen Performance so „niedrig“ bewertet, birgt eine gewisse Ironie in sich. Immerhin ist sein Name heute vor allem durch Cabaret, der Musicalfilm Version seines 1935 erschienen Romans über das untergehende Berlin vor dem Nationalsozialismus, geläufig. Liza Minellis reichlich „dick aufgetragene“ Perfomance als kapriziöse Sally Bowles in diesem Film inspirierte eine Reihe von Performances, die der des „swishy“ Dietrich Boys recht ähnlich sind. Der Dietrich Impersonator und Aficionado ist im Kontext dieser Camp Geschichtsreihe aber vor allem aus einem anderen Grund eine geeignete zentrale Denkfigur: Er stellt so etwas wie ein Verbindungsglied her: Zwischen dem alten Camp der „effeminate subculture“ wie sie zum Beispiel in den Mollyhäusern (siehe dazu Camp StoriesTeil 2) praktiziert wurde und einem neuen Camp des 21. Jahrhunderts. Dieser neue Camp zeigt ein großes Interesse an Leinwandstars, Celebrity Culture und Filmdiven, wie sich an den queeren Avantgarden die Flitter Journal im Laufe dieser Reihe vorgestellt, zeigen wird. Aber zunächst wollen wir die – laut Isherwood „debased“ – Form von „Camp“, die der Diven-Verehrung und Impersonation so viel Platz einräumt, näher ergründen.
Apropos Dietrich
(c) Universum Film AG (UFA), Paramount Pictures
Marlene Dietrich in „Der Blaue Engel“ (1930).
Der exemplarische Dietrich Drag Imitator mit der Federboa mag für Isherwood eine „niedere“ Form von Camp darstellen, doch die Figurenwahl ist sehr interessant. Die androgyne Diva, Hosenrollen-Darstellerin und überzeugte Anti-Faschistin, hatte sich zu der Zeit, als Isherwood seinen Text verfasste, nicht nur als ein mit Weimar Deutschland assoziiertes Anti-Nazi Symbol etabliert. Sie stand auch für eine gewisse divenhaft campe Self-Awareness. In einer Radiosendung namens The Big Show performt sie 1951 gemeinsam mit Tallulah Bankhead einen Sketch. In diesem sehr komischen und selbstironischen Schlagabtausch reflektieren Dietrich und Bankhead ihre eigenen Images, weibliche Film-Klischees und die harschen Anforderungen an weibliche Schauspielerinnen „jung zu bleiben“ bzw. den verzweifelten Versuch vorzugeben, es zu sein: M. Dietrich: “One year on her birthday I turned around and there was my daughter three years older than I am!” Beide Frauen sind Camp-Ikonen, bisexuell und wirken in Abschnitten ihrer Filmkarrieren als würden sie sich selbst und ihre persönlichen schauspielerischen Schrullen imitieren. Die exzentrische Theaterschauspielerin Tallulah Bankhead ist heute vor allem für ihre Rolle in Hitchcocks Lifeboat (1944) bekannt, wo sie mit ihrem Lachen zahlreiche spätere weibliche Disney Villains inspirierte. Im gemeinsamen Radio-Sketch singt Dietrich ihre alte vampy Femme Fatale Nummer „I can’t help it“ (deutsch: „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“) aus Der Blaue Engel in üblich monotoner Stimme. Anschließend meint sie zu Tallulah Bankhead: M. Dietrich.: „You know, men have killed themselves after hearing me sing!“ T. Bankhead.: „I’m sure, darling! I died a little myself.“ Tallulah Bankhead und Marlene Dietrich sind sich der Eigenheiten ihrer Images und Rezeption bewusst und thematisieren diese auf eine campy Weise.
Quelle: Unbekannt.
Marlene und Tallulah in den 50er Jahren bei einer Party.
In der campy Film-Diva kollabieren Image, Privatperson und Film Rolle. Sie ist öffentlich und medial besonders exponiert und macht dies auch zum Gegenstand. Sie illustriert, dass bei Camp das Verhältnis zwischen Intention und Unwillkürlichem, zwischen Selbst-Darstellung und dem Verwiesensein auf Rezeption und Erwartungen anderer oft nicht trennbar sind.
Diva Debased
Die Figur der Diva, hieß es einmal, sei ein „Unfall im Starsystem“ 1. In der Konstruktion ihrer Persona kollabieren privates und öffentliches Leben bzw. sind stark aufeinander verwiesen. Ihre Virtuosität verhält sich außerdem eigensinnig. Sie über- oder unterbietet regelmäßig konventionelle Produktionsstandards. Versehrt, zerbrechlich und vergöttlicht zugleich steht sie sowohl für äußerste Artifizialität als auch Authentizität. Die Diva steht im Rampenlicht – eine stark exponierte artifizielle Femininität, eine aufgeblasene Präsenz. Sie glänzt und strahlt für sich als singulare Erscheinung, ist den üblichen reproduktiv-heterosexuellen Gefügen und Narrativen enthoben.
Die Diva verhält sich überraschend. „Diva“ wurde und wird mitunter auch als synonym für „schwierige“ Frauen eingesetzt, wobei es für diese Kategorisierung nicht viel braucht, denn „schwierig“ kann auch bedeuten, nicht mit allem kooperieren zu wollen (oder einfach die gleiche Gage wie männliche Kollegen zu verlangen, wie einst im Fall der Musicaldiva Patti LuPone). „Diva“ kann auch heißen, Entscheidungen treffen zu dürfen, die den meisten Frauen und marginalisierten Personen verwehrt bleiben.
Die Diva ist auch eine Person die ihr Image bewusst gestalten und manipulieren will. Sie gilt als eitel, weil sie in die Rezeption ihrer Persona eigreifen möchte und als rührend, weil dieses Projekt meist scheitert. Die Diva steht traditionell außerhalb der üblichen Dualität von unschuldsvoller Jungfrau/Mutter vs. korrumpierte Femme Fatale.
Campy Diven stellen ihre Arbeit/Labour am eigenen Image oft bewusst aus, und somit auch die Klischees, Erwartungen und Anforderungen die an sie herangetragen werden (siehe z.B. oben Tallulah Bankhead und Marlene Dietrich). Doch egal, ob sich Diven intendiert oder unbewusst über ihr (gegendertes, materielles) Leben mitteilen, sie gehören zu den beliebtesten Gegenständen der Camp Verehrung und Zelebration. Die fürs Diva-Image typische Implosion von Rollen, Mystifizierung und Privatperson stößt in der queeren Camp Kultur auf eine besondere Resonanz. Denn hier wurde die kulturelle Praxis des „Celebrity Gossip“ schon früh produktiv mobilisiert: als Verständigung über Rollen(-klischees) vs. privaten Begehren, und die sozialen Imperative die beide durchdringen. Zur Ent- und Re-Mythifizierung von Star Personä, sympathisierender Identifikation, oder materialistischer Kritik an konventionellen Narrativen und professionellen Anforderungen. Der patriarchale Ausspruch „gossip dies when it hits a wiseman’s (!) ear” ignoriert ja, dass Klatsch/Trasch, insbesondere Frauen, oft zur sozialen Orientierung, Ergründung möglicher Motivationen und Hintergründe bis zu Fragen der persönlichen Sicherheit dient. Tratsch hat eine wichtige soziale Funktion. Anders als der sexistische und skandalisierende, diffamierende Klatsch der historischen „Regenbogenpresse“, hatte der anteilnehmende Klatsch über Diven und Stars insbesondere in Gay Culture oft eine gemeinschaftsbildene Bedeutung. Es scheint daher auch passend, dass es nicht nur in der Subkultur, sondern auch im Feld der Filmkritik und Theorie vornehmlich Homosexuelle waren, die den schmuddelig konnotierten Celebrity Gossip2 zu einem Analyseinstrument erhoben. So etwa 1947 der Filmkritiker Parker Tyler mit Magic and Myth in the Movies, in Ansätzen Kenneth Anger mit Hollywood Babylon (1959) oder Jahrzehnte später Richard Dyer mit Heavenly Bodies. Film Stars and Society (1986), einem Gründungstext der „Star Studies“-Disziplin.
Norma Desmond
„I am big. It’s the pictures that got small!”
Norma Desmond in Sunset Boulevard
Gloria Swanson in Sunset Boulevard (1950). Foto: Paramount Pictures.
In Billy Wilders Film Noir/Komödie-Mix Sunset Boulevard (1950) macht das Hollywood Kino sich selbst und die eigene Geschichte zum Gegenstand. Die ehemalige Stummfilmdiva Gloria Swanson feiert darin ihr Comeback in der Rolle der Norma Desmond – einer ehemaligen Stummfilm-Diva, die ihr Comeback plant. Dies ist ein Gründungsmoment des „Hagsploitation“- Genres, zu dem auch „Whatever happened to Baby Jane?“ zählt. Zu diesem Genre gehören anachronistische weibliche Maskeraden und Frauen mit „überwältigender“ Präsenz. Oft haben diese vergessenen Diven einen Schauspielstil, der nicht aktuellen Sehgewohnheiten entspricht und somit als „artifiziell“ lesbar ist. Das Genre zentriert ältere, „unnatürliche“ Frauen, die aus kapitalistischen und heterosexuellen Wert- und Verwertungslogiken und der Illusionsmaschine herausgefallen sind. Es kann gar nicht genug betont werden, was für einen enormen Anklang Gloria Swansons „unheimlich“ widerkehrende, aus der Zeit gefallene Stummfilmdiva in ganz unterschiedlichen LGBTQ Milieus fand. Charles Ludlam, Mitbegründer der einflussreichen Ridiculous Theatrical Company, meinte als Schauspieler und Künstler nie eine Stimme gefunden zu haben, bis er 1966 zum ersten Mal in einer Produktion von Ronald Tavel in die Rolle der Norma Desmond geschlüpft ist. In der 1990 Dokumentation über New Yorks Voguing Szene „Paris is Burning“, wendet sich die legendäre Drag Queen Pepper La Beija eindrucksvoll direkt an Jenny Livingstons oft für ihren ethnographischen Blick kritisierte Kamera. Mit einem Zitat der wahnhaften Diva Desmond meint sie: “I’m ready for my Close Up, Mr. DeMille!”
Friends of Dorothy
Die Diva ist seit langem eine wichtige Identifikationsfigur in der LGBTQ Kultur. Ob Mythos oder Wahrheit! – Dem Begräbnis der Schwulen-Ikone und -Freundin Judy Garland 1969 wurde so eine große Mobilisierungskraft nachgesagt, dass diese Versammlung im öffentlichen Raum später in die Stonewall Riots übergegangen sein soll. Judy Garland wurde durch ihre Rolle als Kinderstar in der Technicolor-Parallelwelt von The Wizard of Oz und der Mischung aus Fragilität und Resilienz, mit der sie mit dem System Hollywood kämpfte, zur Queer Culture-Ikone. Während Garlands Name heute noch geläufig ist und Gloria Swansons Meta-Performance einer untergehenden Diva (siehe oben) in den Camp Kanon eigegangen ist, ist Maria Montez heute weit weniger bekannt. Dabei war die Frage „Magst du Maria Montez?“ einst angeblich ein ähnlicher gay code wie die Selbst-Preisgabe als „friend of Dorothy“ (angelehnt an Judy Garlands Rolle der Dorothy in The Wizard of Oz).
Die aus der Dominikanischen Republik stammende und 1951 jung verstorbene Maria Montez galt einst als „Queen of Technicolor“. Montez wurde in den 40er Jahren durch ihre Rollen in exotistischen, billigen B-Movies und Fantasy-Kostümfilmen bekannt aber von der Kritik regelmäßig als schlechteste Schauspielerin verrissen.
In den künstlerischen Camp-Avantgarden, die uns über die nächsten Teile dieser Reihe begleiten werden, hat Montez gleich zwei prominente Fans. Zum einen hat Drag Queen und Warhol Superstar Mario Montez – eine zentrale Figur queerer New Yorker Kunstmilieus der 60er Jahre – sich nach ihr benannt. Zum anderen widmete der vielleicht berühmteste Maria Montez Fan, der Künstler Jack Smith, ihr 1962 seinen Text „The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez”. In diesem Text artikulierte der enorm einflussreiche queere Underground Filmemacher einige Überlegungen, die mit dem korrespondieren, was sich heute als Camp oder Trash Ästhetik artikuliert. „Trash is the material of creators” heißt es darin manifestartig. (Trash heißt übrigens auch eine Andy Warhol/Paul Morrisey Film-Kollaboration mit Mario Montez Kollegin, der wundervollen, ebenfalls puerto-ricanischen Drag Queen Holly Woodlawn.) Smith preist in seinem Text die Widerständigkeit und glamouröse Vision im „scheußlichen Schauspiel“ von Maria Montez.
Bezeichnenderweise spielten sowohl Jack Smith als auch Mario Montez später in Andy Warhols Film „Camp“ (1965) mit. Mehr zu den queeren New Yorker Avantgarden der 60er Jahre, ihrer Produktivmachung von schlechtem Schauspiel und ihrem Verhältnis zu Susan Sontags Notes On Camp folgt in den nächsten Teilen der Die Camp Sensibility Serie.
Literatur:
1Barbara Straumann und Elisabeth Bronfen: „Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung. Celebrity Culture im 20. Jahrhundert.“ 2002.
2 Siehe hierzu auch: Marc Siegel: „Jack Smith Glauben schenken“ In: Golden Years: Materialien und Positionen zu queerer Subkultur
und Avantgarde zwischen 1959 und 1974 (2006)
Isherwood, Christopher: The World in The Evening (1954).
Smith, Jack: „The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez“ In: Film Culture, Winter 1962/63
Hollywood Ruinen, Star Images, queere US Avantgarden – 1.
Als Susan Sontag in den 60er Jahren ihre Notes On Camp veröffentlicht, florieren in den USA künstlerische Milieus, die an Verbreitung und Erfolg dieses Konzepts maßgeblich beteiligt sind. In der aktuellen Reihe eröffnen wir einen Einblick in einige dieser queeren Kunstavantgarden. Dabei wird Sontags Auseinandersetzung mit Camp auch in Beziehung zum Umfeld von Andy Warhol und Jack Smith gesetzt. Im aktuellen Teil soll es jedoch zunächst um weniger bekannte Camp Institutionen wie das Theatre of the Ridiculous und die Cockettes Kommune gehen.
Schon vor den emanzipatorischen LGBTQ-Unruhen vor dem Stonewall Inn von 1969 erlangte queer kodierte Kunst in der Pop Kultur der 60er Jahre großen Einfluss. In New Yorks East Village explodierten campe Performance- und Theaterexperimente und feierten durchaus kommerzielle Erfolge. Währenddessen gehen Bilder der San Francisco-Drag Kommune „The Cockettes“ um die Welt.Die in Folge beschriebenen queeren Kunstmilieus bewegen sich zwischen bildender Kunst, Experimentalfilm, Theater, und Sparten, welche zum damaligen Zeitpunkt überhaupt erst im Entstehen waren, wie Expanded Cinema, intermedialer Performance Art, oder der Arbeit mit Found Footage. Verbindende Merkmale, die diese queeren Settings teilen und von anderen etablierten modernen Kunstbewegungen trennen sind das Interesse an Popular- und Celebrity-Kultur, Hollywood und B-Movies, Designs der Alltags- und Konsumkultur (wie zB. Werbung, Comics, Textilien), populare Mythologien, medial vermittelte und filmisch inszenierte Star- Körper und natürlich Drag als Prisma, durch das all diese Phänomene reflektiert werden können. Wie schon ihre queer-surrealen Vorläufer Kenneth Anger und Parker Tyler, teilten fragliche Kunst-Settings eine gewisse Sensibilität für eher zufällig erzeugte auratische Effekte, die kulturindustrielle Inszenierungen als Nebenprodukte abwerfen (der eigenartige Gang eines bestimmten Stars, merkwürdige Erzählkonventionen bestimmter Genres). Wie und in welchem Ausmaß die aufgezählten Elemente künstlerisch eine Rolle spielten, konnte sehr unterschiedlich ausfallen: In der Factory um Andy Warhol spielen Reduktion auf ikonisch-wiedererkennbare Details, das Spiel mit Wiederholung/Serialisierung und Dekonstruktion oft eine Rolle. Am camperen Ende des Stil-Spektrums – wie bei Jack Smith, oder den Cockettes – werden zum Beispiel veraltete Hollywood Referenzen zu maximalistischen Trash-Kompositionen oder surreal komischen Traumlandschaften neu zusammengesetzt.
CAMP, POP, ART
Camp als Rezeptionserfahrung und queerer Gestaltungsmodus spielt in Kunstmilieus um Jack Smith, Andy Warhol und dem Theatre of the Ridiculous eine große Rolle. Zwischen diesen Milieus gibt es auch zahlreiche personelle Überschneidungen: dieselben Amateurinnen, Bohemians, Eccentrics, Drag Queens, die im Theatre of the Ridiculous performen, waren oft auch an den Sets von Warhols Factory oder Jack Smiths Filmen anzutreffen. (So waren z.B. Mary Woronow, Mario Montez, Jackie Curtis, Taylor Mead, Ondine, Jayne Jounty und Holly Woodlawn, um nur einige Namen zu nennen, an mindestens zwei dieser Schauplätze zu finden). Auch Susan Sontags theoretische Arbeit weist zumindest zwei dieser Settings, nämlich Jack Smith und Andy Warhol, eine Verbindung auf (siehe Kasten).
Text Relations. Susan Sontags Notes im Austausch.
Foto (c) Andy Warhol. 1964 Bereit für ihren Screentest. Susan Sontag 1964 extrem cool auf Besuch bei Andy Warhol in der Factory.
Susan Sontag (1979)(c) Lynn Gilbert Sontag 1979 im klassischen Intellektuellenportrait (obligatorischen am Schreibtisch vor prall gefülltem Bücherregal).
Susan Sontag (1933-2004) war übrigens was die Kundmachung ihrer eigenen sexuellen Orientierung betrifft sehr zögerlich und machte diese, trotz langjähriger lesbischer Beziehungen, erst spät im Leben öffentlich.
Der immense Erfolg von US Pop Art, insbesondere Warhol, trug dazu bei, dass Aspekte einer queeren Ästhetik sich rasch verbreiteten. Queere Kodierungen und Inhalte blieben dabei jedoch oft im Schatten. Die intellektuelle Auseinandersetzung mit der hohen Dichte homosexueller Akteure und Codes in US Pop Art erreichte öffentlicher Debatten erst sehr viel später. Autor_innen wie Jenifer Doyle, Mandy Merck, José Esteban Muñoz und Douglas Crimp haben viel zu diesem Perspektivenwechsel, weg von einer reinen interpretatorischen Reduktion auf Fragestellungen zu flacher Konsumästhetik und Mediengesellschaft, hin zur Untersuchung von queer-utopischen und campe Elementen in Warhols Schaffen.1
Dass Sontags „Notes on Camp“ so eine starke öffentliche Resonanz fanden und Camp bald zu einem beliebten Massengeschmack und Designtrend wurde, mag verschiedenen kulturellen Entwicklungen der 60er Jahre geschult sein (mehr dazu an einer anderen Stelle). Doch der wachsende Einfluss queer-camper Kunstmilieus in urbanen US-Zentren der 60er ist so etwas wie das oft überhörte Hintergrundrauschen zur Erfolgsgeschichte von Sontags Text. Besagte queere Kunstszenen nahmen Referenzen aus der popularen Kultur auf und transformierten sie durch ein Camp Eye, was wiederum von der Popularkultur (und später auch der Kunstwelt) selektiv aufgenommen wurde. Spätestens seit den 60ern etabliert sich so in gewisser Weise ein wechselseitig „parasitäres“ Verhältnis zwischen den sogenannten „Massenmedien“ und queerer Subkultur. In ihrer gleichzeitigen Abwendung von modernistisch-bürgerlichem Ernst, wie auch kulturindustrieller Normierung und Gleichschaltung, suchen queer-subkulturelle künstlerische Settings der 60er und frühen 70er einen dritten Weg – den campen Weg. Zwei dieser Settings sollen in Folge vorgestellt werden.
THEATRE OF THE RIDICULOUS
Das Theatre of the Ridiculous war ein Anker camper Kunst im New York der 60er und 70er Jahre. Charles Ludlam, John Vaccaro und Ronald Tavel gründeten es 1965. Sie vermischten B-Movie Plots mit experimentellen Einflüssen des Living Theatre und Performance Art. Drag-Verballhornungen klassischer Dramen und Märchen trafen auf Sujets aus Werbung oder Tarot. Das Ganze wurde dann mit reichlich homoerotischen Anspielungen und Slapstick unterlegt (vor allem bei Charles Ludlam) und anschließend gesamte Bühnensets inklusive Publikum großzügig in Glitter getaucht (insbesondere John Vaccaro war für den exzessiven Gebrauch von Glitter bekannt). So wurde die Ästhetik von Drag Queens und Elemente von Vaudeville auf die experimentellen Theaterbühnen gebracht. Klingende Namen einiger bekannter Produktionen, die aus dem Theatre of the Ridiculous hervorgingen sind: When Queens Collide, Camille, Turds in Hell, The Life of Lady Godiva, The Grand Tarot, Eunuchs of the Forbidden City,The Mystery of Irma Vep.
1967 teilten sich John Vaccaro und Charles Ludlam aufgrund künstlerischer und zwischenmenschlicher Differenzen in zwei Truppen, dem Playhouse of the Ridiculous und der Ridiculous Theatrical Company. Ronald Tavel, der eine Zeit lang noch mit Vaccaro kollaborierte, ist heute vor allem für seine Regiearbeiten für Andy Warhol bekannt.
“Cockstrong” Aufführung bei Sigma Festival in Frankreich 1971 – Playhouse of the Ridiculous, Produktion: John Vaccaro.
Für John Vaccaro, stand vor allem das „Transgressive“ im Vordergrund: Körper- und Geschmacksgrenzen, Taboo, Trash, Brachiales, Ausscheidungen (ebenfalls in Glitter getaucht). Er hatte eine große Resonanz in der amerikanischen Proto Punk-Bewegung: Patti Smith war zeitweise Ensemble-Mitglied und die New York Dolls ließen sich von seinem Theater zu ihren Drag Looks inspirieren. (Über Vaccaros Einfluss auf Glam- und Glitterrock werden wir an einer anderen Stelle noch berichten!). Neben Punk Koryphäen konnte man Marcel Duchamp – seines Zeichens ebenfalls Drag Queen mit Affinität zu „Toilet Humor“ – in seinen späten New York Jahren im Publikum des Theatre of The Ridiculous antreffen. Vaccaros Arbeiten sind sehr spärlich dokumentiert. Das mir einsehbare Material, enthielt Tendenzen, die ich als äußerst schwierig empfinde: Transgression/Provokation wird als wichtigster heroischer Selbst/End-Zweck betrachtet. Mitunter gibt es „edgy“ exotisierende „Primitivismus“-Darstellungen. Außerdem war Vaccaro für seinen autoritären Regie-Stil bekannt. Angeblich stieß er Drag Ikone Jackie Curtis einmal von einer Treppe. Auch Vaccaros Kollaborateur Ronald Tavel nutze die grenzüberschreitende Agitation von Darsteller_innen als „Regie-Mittel“ in Warhols Filmen. Wohl auch aus diesen Grünen spaltete sich Charles Ludlam, der selber Schauspieler und passionierte Drag Queen war, 1967 ab und gründete seine eigene Ridiculous Theatrical Company. Während Vaccaro sehr viel Wert darauf legte, keine „gay plays“ zu machen, hatte Charles Ludlam mit diesem Label keine Probleme. Ludlam wurde für sein nuanciertes Drag Schauspiel gerühmt, die Art wie er bei der Darstellung großer Frauenrollen wie Norma Desmond oder der Kameliendame zwischen Einfühlung und queerem Slapstick changierte.
Charles Ludlam
In seiner berühmten Camille Darstellung trug Ludlam einen tiefen Ausschnitt, der die behaarte Brust entblößte.
Die feministische Performance Wissenschaftlerin Katy Davy berichtet, wie Ludlam die Todesszene der Kameliendame/Camille so spielte, dass (auch das heterosexuelle) Publikum zu Tränen gerührt war, wobei bei der Inszenierung durchschillerte, dass sie auch vom Begehren zwischen Männern handelte. In der Sterbeszene meint Camille ernst: „Ich friere, wirf doch noch ein paar Reisbündel (englisch: Faggots = Reisbündel, <Schwuchtel>) ins Feuer“. Auf die Antwort, es gäbe keine Reisbündel/“Faggots“ mehr im Haus, setzt sich Ludlam abrupt auf, fixiert skeptisch das Publikum und fragt traurig „no faggots in the house?“ um dann weiter zu sterben. Davy meint, dass sie gewillt war, den Drag Ludlams in gewisser Weise als Reproduktion und nicht nur als Kritik heterosexueller Stereotypen zu sehen, bis sie zum ersten Mal eine Inszenierung eines Ludlam-Stücks durch eine „straighte“ Theatertruppe sah, das ihr den Unterschied drastisch vor Augen führte. Qualität und Mehrwert von Ludlams Darstellung lagen für Davy in seiner besonderen campen Mischung aus einfühlender Verkörperung und „brechtscher Verfremdung“.2
In den Notes on Camp führte Sontag zahlreiche Gegenstände an, die sie als Teil des Camp Kanons sah (z.B. Tiffany Lampen, Opern, Jugendstil, bestimmte Schauspieler_innen oder Comics). Für Ludlam, der zahlreiche Essays über seine Theaterarbeit verfasste, war Camp eine auf ähnlichen Erfahrungen mit bestimmten (kulturellen) Gegenständen beruhende geteilte Attitüde. Das Konzept Camp würde all seine entscheidende (politische) Relationalität verlieren, würde man versuchen, es auf bestimmte „inhärent campe“ Gegenstände festzunageln. (“What’s wrong with that is camp ceases to be an attitude toward something and loses all of its relativity. It nails it to the wall and makes it very literal”).
Nach der Veröffentlichung von Sontags Notes wurde Camp bald allen möglichen Gegenständen zugeschrieben, die over-the-top, artifiziell wirkten oder ironisch wirkten. Ludlam war einer der frühsten Kritiker der Transformationen, die Camp durch neue Resonanz in der „straighten“ postmodernen Kultur durchlief. Camp würde seiner laut ihm so zu einer Art Ironie im abgesicherten Modus werden:
“The thing that’s really horrible is heterosexual camp, a kind of winking at you saying, “I don’t really mean it” 3
Das von Ludlam beschriebene „schreckliche Augenzwinkern“, beschreibt eine Ironie ohne parodistische, erneuernde, oder kritische Aussage. Es ist auch eine noch heute wohlbekannte Methode, fragwürdige und reaktionäre, sexistische usw. Inhalte zu reproduzieren, und sich gleichzeitig gegen Kritik zu immunisieren. Es ist eine Ironie, die meint, außerhalb von Machtverhältnissen zu stehen aber diese gleichzeitig erhält.
Aus Ludlams „Composition Book“
Charles Ludlams im Lincoln Center archiviertes (halb verschimmeltes) Tagebuch (Composition Book) von 1966.Billy Rose Theatre Division, The New York Public Library
Obwohl Ludlam nicht im bildnerischen Bereich arbeitete, nutze er in seinen Arbeits-Notizen und Stück Skizzen interessanterweise Pop Art und Cut Up artige Textbildcollagen. Auch hier sieht man das Interesse an medial vermittelten Körpern und Posen, Celebity- und Star-Culture. Übervertraute, massenweise reproduzierte Bilder und Gesichter werden mit falschen (ebenfalls übervertrauten) Schlagzeilen, Namen, versehen. Unter einem Bild der Queen steht „Amelia Earhart“, unter eine Gefängnisinsassin „Judy Garland“. Einzelne aus anderen Medien entnommene Elemente werden skeptisch betrachtet oder neu kontextualisiert.
Ludlams Theater schloss sowohl an traditionellere burleske, komödiantische Drag-Traditionen, wie auch an experimentelle Tendenzen der 60er Jahre an. Die unsinnigen Plots nahmen Horror-, B-Movie und Abenteuerroman-Motive und Figuren auf: „Hermaphroditen“, Eunuchen, ein wahnsinniger König Blaubart der Frankenstein-Geschlechtsteile zusammenschustert. Solch explizite Darstellungen dienten bei ihm, anderes als bei Vaccaro oder anderen 60er Kunstprotagonist_innen, eher zur burlesk-satirischen Verstärkung oder queer-kritischen Kontextualisierung als dass ihnen per se eine „befreiende“ oder „subversive“ Wirkung attestiert wurde. Das Pornographische sei ihm immer zu langweilig naturalistisch, behauptete Ludlam in einem Brief: „Depicting sexual things -nudity and all- we were taking a satirical view. We were celebrating physical love, or criticizing it, or commenting on it. It was the seriousness of pornography that we were never into.”4
Ludlams Stücktexte sind weitgehend erhalten, doch lebten diese erst vom eigenwilligen Performance-und Inszenierungsstil Stil der Company. Mein persönlicher Favorit unter den erhaltenen Textfassungen ist das 1977 uraufgeführte Stück Der Ring Gott Farblonjet. Es ist eine Veräppelung von Wagners Ring des Nibelungen in denglisch-jiddisch angelehnter Fantasiesprache mit „Dykes on Bikes“ als Walküren und fiesen Pseudodeutsch sprechenden Zwergen. Ludlam feierte mit seiner Ridiculous Theatrical Company beim New Yorker Publikum erhebliche kommerzielle Erfolge. Später trat er in Filmrollen für Rosa von Praunheim und in James Bidgoods Pink Narcissus auf. In den 80ern wurde er sogar von Madeleine Kahn eingeladen, im Hauptabendprogramm in ihrer ABC-Sitcom in Drag aufzutreten. Ludlam starb 1987. Seine Todesanzeige in der New York Times (1987) war eine der ersten, die AIDS explizit als primäre Todesursache erwähnte.
THE COCKETTES
Anders als die New Yorker Kunst-Gruppen um die Factory und das Theatre of the Ridiculous schlossen sich die Cockettes in San Francisco ohne übergeordnete Regie-/Kunst-Persönlichkeiten zu einer Gemeinschaft „androgyner Freaks“ 5 zusammen.
Old Hollywood und LSD
Cockettes Gründungsmitglied Hibiscus und Angel Jack. Quelle: unbekannt
Während viele linke Gruppierungen der 60er kulturindustriellen Produkten gegenüber eher skeptische eingestellt waren, liebten die Cockettes Old Hollywood Diven und Musicals. Von den glamourfeindlicheren Kommunen, aus denen sie teilweise hervorgegangen waren, unterschied die Cockettes neben ihrer Queerness, ihre extreme Cineastik. Sie kuratierten mitternächtliche Kultfilm-Vorführungen um die herum sie ihre teils improvisierten rauschhaften Drag-Dreamscapes performten.
Die sehr divers zusammengesetzte Drag-Hippiekommune war zwar überwiegend gay, aber keineswegs exklusiv. Auch Heterosexuelle und/oder Frauen mit Kindern waren Teil der Cockettes. Die Künstlerin Fayette Hauser, die später Roben für Bette Midler entwarf, meinte dass die Frauen der Kommune den eklektischen over-the-top Drag als Befreiungsmittel von repressiven weiblichen Kleidungskonventionen gestalteten. Die Dragästhetik der Cockettes ging oft ins Karnevaleske, Märchenhafte, Clowneske über. Sie sammelten Vintage Kleidung bevor dies in Mode war, bastelten aus diesen Kostüme, durch die sie sich ausdrückten „because drugs made everyone nonverbal”.6
Neben ihren Drag Interpretationen waren auch die bildnerischen ästhetischen Zugänge der Cockettes vielfältig. Aus der legendären The Cockettes Doku von David Weissmann und Bill Weber kennt man vor allem die Glitter Collagen von Hibiscus.
Hibiscus and Angel Jack in Amsterdam (Quelle: unbekannt)
Filmstill aus The Cockettes, Dokumentation von Bill Weber/David Weissmann, 2002.
Rechts oben: Das Skizzenbuch von Hibiscus für Aufführungen im Palace Theatre, die seiner Meinung nach immer kostenlos (ergo FREE) bleiben sollten. Hier vorgestellt von seiner Mutter Ann Harris, die an seinen späteren Produktionen mitarbeitete.
MS Thr 2057, Houghton Library, Harvard University.Flyer & Poster der Cockettes und der aus diesen hervorgegangenen Angels of Light. 1969-73.
Mit zahlreichen, anonym gestalteten Broschüren, Zines, Flyer, Einladungen hinterlassen die Cockettes ein Konvolut von extrem interessanten Designs, Grafiken und Typographien. Oft gehen Jugendstil Girlanden im Stile des Yellow Books in poppig psychedelische Elemente über und vermischen sich mit wild durcheinander gewürfelten Kalligrafie-Einflüssen. Flammende Schriften erinnern an die späteren Heavy Metal Designs à la Christophe Szpajdel, die noch später wiederum von der Club Kultur entdeckt wurden.
Oben: Flyer der Angels of Light (1970).
Unten: Die später entstandenen schwarz-weiß Fotografien von Cockettes-Mitglied Steven Arnold. Der Stil ist inspiriert von Georges Méliès Stummfilmen, dem Kino der Attraktionen und den überfüllten Bric-à-Brac Tableaus von Jack Smith.
Von den Cockettes gingen viele interessante Verbindungslinien und Kollaborationen aus: Von John Waters und Drag Queen Divine bis zu Salvador Dali, der angeblich Steven Arnold protegierte. Während das Theatre of the Ridiculous mehr die Glam Rock Bewegung beeinflusste, lässt sich von den Cockettes eine überraschende Verbindung zu den Anfängen von Disco ziehen. Eines der bemerkenswertesten kurzzeitigen Cockettes Mitglieder war die späteren queere Disco Ikone Sylvester. Beide Konstellationen, also sowohl das Theatre of the Ridiculous als auch die Cockettes, trugen mit ihrer einschlägigen Mischung aus B-Movie- und Drag-Liebe wohl auch zum kommerziellen Erfolg späterer Produktionen wie der Rocky Horror Picture Show bei. (Mehr zu dem Nachhall beider Truppen in der Popkultur folgt in den upcoming Flitter Glitterballs!)
MS Thr 2057, Houghton Library, Harvard University. Flyer for Sylvester And His Hot Band, 1971.
Filmstill aus „Elevator Girls in Bondage“. 1972. Regie: Michael Kalmen.
Oben: Rumi Massabu agitiert mit Marx in „Elevator Girls in Bondage“. Eine der wenigen Filmproduktionen mit Cockettes-Mitgliedern.
Es ist heute kaum vorstellbar und nahezu vergessen, welch legendären Status die Cockettes in den drei Jahren ihres Bestehens erreichten und was für weite Kreise ihr Schaffen zog. Musikzeitschriften portraitierten einzelne Cockettes über eine ganze Seite wie Popstars. Politische, studentische und Counterculture Blätter, berichteten über ihren Lebensstil.
Links: Die Politik- und Literaturzeitschrift Ramparts über die Cockettes und das „dritte Geschlecht“. (1973)
Rechts: Die französische Fotografie-Zeitschrift Zoom schreibt über den Besuch der Cockettes in New York. (1973)
In den 70ern professionalisierten sich die Cockettes mit skript-basierten Aufführungen wie dem von Kenneth Anger inspiriertem Hollywood Babylon (1971) oder Pate on Pate (1970) –„an ode to Glitter and to Jayne Mansfield“
Als sie 1971 in New York performten waren von Liza Minelli, Andy Warhol, Truman Capote und Gore Vidal bis zu Angela Lansbury und Paul McCartney diverse Prominenz im Publikum anwesend. Sie floppten natürlich total. Ihr chaotischer und familiärer Stil war mit der coolen New Yorker Ästhetik der frühen 70er wenig kompatibel.
Foto (c) David Wise. Performer Hibiscus spaltete sich mit den Angels of Light von den Cockettes ab, da er gegen die Einführung von Stückskripten und Eintrittsgeld war. Hibiscus wollte weiter im kleinen Rahmen improvisieren, während viele Cockettes den Wunsch nach Professionalisierung hatten.
Ab 1972 führten harte Drogen, Geld verdienen müssen, künstlerische Differenzen und später auch die AIDS-Epidemie dazu, dass die Cockettes von der Bildfläche verschwanden. Auch war der vormalige Lebensstil der Truppe in den 60ern ja nur durch ein wohlorganisiertes Kommunennetz, das sich gratis wechselseitig mit allen möglichen Dienstleitungen versorgte, und das großzügige San Francisco Welfare /Food Stamps System gewährleistet worden. Laut dem Zeitzeugen John Waters ermöglichten kalifornische 60er Sozialleistungen – unbewusst und unintendiert – kurzzeitig neben zahlreichen sozialen Experimenten ein reges nicht marktorientiertes Kunst- und Kulturleben.
(c) FLOWERS, John and Clay GEERDES. The Official Cockettes Paper Doll Book.1971
Die verschiedenen Zettel, Broschüren, Zines, die die Kommune hinterließ, gewähren einen Einblick, wie die Cockettes unterschiedliche mediale Stilisierungstechniken zitathaft aufgriffen, um sich als queere Körper, Community, alternative Wahlfamilie zu inszenieren und zu konstruieren. Einmal entwarfen sie sich als Calender Girls für den Kommunen-internen Kalender, einmal als ausschneidbare Anziehpuppen. Dieses Merkmal des Selbstentwurfs durch Aufgreifen und Neumodelierung gängiger Inszenierungsmittel teilten die Cockettes auch mit weniger hippiesken queeren Kunst-Communities der 60er und 70er…
Zwischen Performance und Lebensgemeinschaft
Das Arbeiten in neuartigen gemeinschaftlichen Anordnungen von wahlverwandten „Superstars“(Warhol), „Creatures“(Jack Smith), „Cockettes“ (The Cockettes) oder den späteren „Dreamlanders“ von John Waters ist eine auffällige Gemeinsamkeit früher queer geprägter Kunstmilieus. Die Vercampung und Verque(e)rung von „Stardom“ zur Selbst-Konstruktion ist eine weitere Gemeinsamkeit. Genauso wurde das mediatisierte Gemeinsam-abhängen als Gruppenkonstellation mitunter selbst zum Kunst-Gegenstand gemacht. Gewisse Aspekte dieser Mischung aus Selbst-/Fremd-Beobachtung und Selbst-/Fremd -Hervorbringung finden wohl im späteren Reality TV einen leisen Nachhall. Auch hier gibt es ja häufig temporärer Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, die eine eigene Form von „Celebrity“ hervorbringen.
Mehr über Andy Warhols „Superstars“, Jack Smiths „Creatures“ und queere Avantgarden folgt in Teil 3 der Camp Sensibility-Reihe.
Literatur:
1 Siehe zum Beispiel: Pop Out: Queer Warhol. HG. J. Doyle et al.
2 Kate Davy: „Queering Gender Performance: Die Kunst und die Politik von Charles Ludlams Theatre of the Ridiculous und die lesbische Herausforderung.“ In: Golden Years. Materialien und Positionen zu Queerer Subkultur und Avantgarde zwischen 1959 und 1974. HG. D. Diederichsen et al. 2006
3 Charles Ludlam: „Camp“. In: Ridiculous Theatre. Scourge of Human Folly. The Essays and Opinions of Charles Ludlam. HG. S. Samuels. 1992.
4 In: Ridiculous Theatre. Scourge of Human Folly. The Essays and Opinions of Charles Ludlam. HG. S. Samuels. 1992.
5The Cockettes, Dokumentation von Bill Weber/David Weissmann, 2002. Grandelusion Production.
6 Ibid.
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Archive:
Charles Ludlam papers, Billy Rose Theatre Division, The New York Public Library
MS Thr 2057, Houghton Library, Harvard University.
Hollywood Ruinen, Star Images, queere US Avantgarden – 2.
Die Camp Sensibility – Teil 3
Über Superstars, Creatures und andere Wahlverwandtschaften
In den 60er Jahren florierten in den USA queere künstlerische Avantgarden, für deren Schaffen Camp als Stil und Rezeptionserfahrung eine wichtige Rolle spielt. Die aktuelle Reihe schafft einen kleinen Einblick in campe US-Kunstmilieus und ihrer Beziehung zu Susan Sontags 1964 erschienenen Notes On Camp. Im dritten Teil begegnen uns Factory Superstars, B-Movie-Kreaturen und Technicolor Meerjungfrauen.
WARHOL’S „CAMP“.
Die in dieser Reihe beschriebenen queeren Kunstavantgarden teilen das Interesse an Hollywood, Star- und Celebrity Culture. Die queer-campe Aufmerksamkeit für die Spannung zwischen Rollenspiel und Privatperson wurde im ersten Teilan der Figur der Diva exemplifiziert. Eine weitere neuartige gemeinsame Tendenz ist die De- und Neukonstruktion von „Celebrity“. Inszenierungstechniken zur Herstellung von Star-Körpern werden nicht nur analytisch betrachtet. Sie werden auch genutzt um „Stardom“ auf vormals illegitime (zB. queere) Körper zu übertragen. Dieser Prozess fand oft in experimentellen Arbeits-/Lebensgemeinschaften statt. Im zweiten Teil wurde hierzu die Cockettes Kommune beschrieben. Doch auch in der „Factory“ von Andy Warhol wurden nach eigenen Logiken „Superstars“ hervorgebracht. Es ist wichtig zu betonen, dass es sich bei der Factory, auch wenn sie vorwiegend mit Warhol identifiziert wird, um ein kooperativ arbeitendes Gruppen-Kollektiv handelte, wenngleich mit äußerst eindeutiger Machtverteilung. Während sich die Bilder oft mit massenhaft (re-)produzierten Star-Körpern auseinandersetzten, destillieren die Filme die charismatische Präsenz der Factory-„Stars“ zu handlungslosen Screentests. Auch andere Filme arbeiten mit Reduktion, wenn Warhol seine statische Kamera möglichst ununterbrochen auf sorgsam kuratierte Gruppenkonstellationen hält. Eine solche Produktion ist der an Susan Sontags Notes angelehnte Film Camp (1965). Der Film ist als eine Art Variety Show bzw. Nummernrevue konzipiert. Gerald Malanga wirkt als Master of Ceremonies während Warhol, wie meistens, einfach hinter der Kamera geschehen lässt. Camp ist ein Zeugnis der, wie ich denke, historisch durchaus einmaligen heterogenen Zusammensetzung und Begegnung in der Factory. Denn in Warhols Kreis trafen Millionärstöchter auf Street Hustler, Bohemians auf Drag Queens, Celebrities auf Celebrity Impersonators und prekär lebenden transidente Personen.
“I was reflecting that most people thought the Factory was a place where everybody had the same attitudes about everything; the truth was, we were all odds-and-ends misfits, somehow misfitting together.”
Die Zusammensetzung am Set von Camp hält ein kulturelles Moment fest, für das es ein sehr kurzes Zeitfenster gab und das Milieu der Factory doch recht einzigartig macht. It Girl und Millionärstochter Baby Jane Holzer performt neben puerto-ricanischer Drag Queen Mario Montez und dem damals skandalumwitterten queerem Filmemacher Jack Smith. Donyale Luna, eine der ersten schwarzen Supermodels der USA, teilt sich das Set mit Tally Brown, einer exzentrischen Blues Sängerin und Underground Ikone, die ihren korpulenten Körper schon früh allen Medienstandards zum Trotz selbstbewusst und freizügig inszenierte. Außerdem Teil der Truppe: Der damals bereits 82 jährige Paul Swan – ein in den 20er Jahren zu Ruhm gekommener homosexueller Tänzer und Künstler, der durch seine halbnackten „griechischen Tänze“ einen gewissen Camp Kultstatus erreicht hatte. Dann ist da noch Tosh Carrillo – damals ein Blumenverkäufer – der in der S&M und Fetisch Szene durch seine „akrobatischen Zehen“ zu Ruhm gekommen war. (Carillo ging später nach L.A. und wurde ebenfalls Künstler. Einige seiner Fotographien in der Ausstellung “Axis Mundo: Queer Networks in Chicano L.A.” gezeigt). Alle „Stars“ erstrahlen durch die wechselseitige Berührung und Kontextualisierung in einem neuen Licht.
Diese temporäre misfittingly kooperierende Wahlgemeinschaft dokumentiert neben dem spezifischen Milieu der Factory auch ein besonderes Momentum der Pop Art Bewegung, als queere Subkultur, Pop und Kunst sehr breitenwirksam zusammentrafen. Diese Begegnung schaffte auch einen Nährboden für die kommerzielle Verbreitung (und schlussendlich auch Entkontextualisierung) queerer Ästhetik, einen Nährboden, der auch teilweise die breite Resonanz von Susan Sontags Notes on Camp miterklärt.
„Echte“ Stars bzw. echtes Stardom und dessen Verqueerung begegnen sich in der Factory in einem merkwürdigen Tanz. Es entstehen Räume, wo High Society und Kunstwelt-Stars, neben queeren Außenseiter_innen wie Jackie Curtis, Mario Montez, Holly Woodlawn und Candy Darling posieren. Die vielen oft finanziell sehr schwachgestellten PoC- und Latin Queers, die bei Warhols Werken partizipierten, blieben allerdings in der Regel auch arm. Denn sie wurden von der Factory notorisch schlecht bezahlt. Da endet das Utopische dann auch.
HOLLYWOOD RUINEN, CAMP MAXIMALISMUS, FLAMMENDE KREATUREN.
Kenneth Anger
Viele der in dieser Reihe vorgestellten 60er Camp-Avantgarden setzten sich experimentell mit Ikonographien Hollywoods, aber auch den verworfenen, démodé Styles, die es im Laufe seiner Geschichte hervorbrachte, auseinander. Doch nicht erst seit den 60er Jahren befasst sich queere Kunst und Literatur mit dem Hollywoodkino. Der dem Surrealismus nahestehende Underground Kritiker Parker Tyler sinniert schon in den 40er Jahren über die Hollywood Hallucination und später dann über die Drag-haftigkeit von Greta Garbo (mehr dazu demnächst!). Noch wesentlich einprägsamer setzte sich Kenneth Anger sowohl in seinen Büchern als auch seinem filmischen Schaffen auf sehr unterschiedliche Weise mit Hollywood Mythologien auseinander. In seinen Filmen greift er mitunter die surreal-ekstatischen, von der „normalen“ Sinnproduktion und Narration befreiten Elemente des typischen MGM Musicals auf und bringt diese mit okkultistischen und queer-erotischen Motiven zusammen. Bereits 1949 schuf Anger mit Puce Moment eine campy sinnliche Hommage an eine glittery 20er Jahre Diva. Der Kurzfilm kreiert eine in kräftigen Leuchtfarben gehaltene Traumlandschaft aus tanzenden von unsichtbarer Hand geführten Paillettenkleidern, herumliegenden Accessoires und Parfumflaschen. Die Flapper-Kleider öffnen sich im Tremor wie Vorhänge zur Seite, um immer mehr Kleider und zitternde Hüllen freizulegen. Die Dame des Hauses rastet auf ihrer Chaiselongue, probiert müßig Kleider, berauscht sich an ihren Parfums und führt ihre Borsoi Hunde aus. Die hin gewürfelten Insignien kosmetischer und textiler Femininität existieren losgelöst vom patriarchalen Gaze und haben stattdessen einem lustbesetzten luxuriösen Glamour Platz gemacht.
Fimstills aus Puce Moment
Regie: Kenneth Anger. 1949, USA
Jack Smith
Ähnlich wie Anger und anders als viele Pop Artists pflegte auch Jack Smith einen maximalistischen Stil. Auch er arbeitete mit Referenzen aus yesteryears Hollywood. Statt „Superstars“ bevölkern „Creatures“ seine Filmexperimente, Wesen, die durch verschlissene und zerfallenden Old Hollywood B-Movie Landschaften wandern oder tanzen. Die Creatures verschmelzen in teilweise sehr ungewöhnlichen Bildausschnitten mit herumliegenden Requisiten, Stoffen, Müll oder umliegender Natur. Sie formieren sich mit anderen Körpern zu Tableaus, lösen sich auf, formieren sich neu – zwischen barocker Opulenz und desorientierendem Trash. Smiths sehr taktile Kamera gleitet über Seidenschals, Bric-à-Brac, Körperteile, Blumen-Arrangements und Totenköpfen, tastet die Oberflächen von „glamourösen Müll“langsam ab.
Mario Montez als Meerjungfrau in Jack Smiths Normal Love (1963).
In einer Szene liegt Montez zwischen verstreuten Blumen und Perlen und Totenköpfen vor einem Maria Montez-Schrein. Er wippt mit seinem Fischschwanz zur Musik, ein Cola wird ihm aus dem Off zugetragen. In einer anderen Szene, die an Esther Willams Schwimmeinlagen in den MGM Musicals erinnert, nimmt Montez ein Milchbad. Smith arbeitete mit einfachen Requisiten und Alltagsgegenständen: billiger Modeschmuck, Milch, Halloween Kostüme. Der Filmkritiker J. Hoberman bezeichnete diese Gegenstände als „glamour-encrusted povera“.1
Als vage Referenz für Smiths Filme dienen fantastische Kostüm -und Abenteuerfilme und Musicals der 40er Jahre und Musicals, die eine eigenwillige Synthese mit Elementen aus B-Horror Movies und „Freak Shows“ eingehen. Glamouröse Maskeraden werden um ihr Ausgeschlossenes (Queerness, „Freakishness“, „Schmutz“, Tod bzw. Vergänglichkeit2 ) erweitert.
Auch einen gewissen Orientalismus/Exotismus muss man bei Jack Smith, wie auch seinem Kollegen Ron Rice, mit dem er an Chumlum arbeitete, festhalten. Dass der „Orient“ als wenig differenzierte Projektionsfläche für eine „andersartige“ Opulenz herhalten muss, scheint in der angloamerikanischen queeren Kunst prinzipiell eine Kontinuität zu haben und sich in hippiesken 60er Jahre Settings nochmal zu verstärken. (Ein Tiefpunkt dieser Art von „Inspiration“ war wohl, als Mitglieder der Cockettes Kommune Kostüme einer chinesischen Oper raubten). Man muss Jack Smith jedoch zugutehalten, dass ihm bewusst war, mit Projektionen bzw. Zitaten von Projektionen zu arbeiten. Referenzen zum eskapistischen Hollywood-Exotismus der 40er Jahre wählt er als utopisches Darstellungsmittel für eine fiktive Gemeinschaft deklassierter, entrechteter „Anderer“. Wenn es auf Smiths Visitenkarte recht verschmitzt hieß: „Everything from ancient Egypt to the 1940s“, dann beziehen sich „Ancient Egypt“ und „1940s“ auf dieselben alten Hollywood Schinken, die er humorvoll als Referenz für seine Arbeiten herzog.
Jack Smith stand den kapitalistischen Eigendynamiken des Kunstmarktes bereits sehr früh extrem kritisch gegenüber. Die Institutionalisierung der New Yorker Underground Kunstwelt beschrieb er analog zum Wohnungsmarkt als „Landlordism“. Den zweifelhaften Ruhm, den sein Film Flaming Creatures (1963) auslöste – inklusive schaler Obszönitäts- und Kunstfreiheitsdebatten, die der Film auslöste – waren für ihn eine höchst unangenehme Erfahrung. Nach Flaming Creatures brachte Smith bewusst kein Filmprojekt mehr in eine abgeschlossen-konsumierbare Form. Er schnitt seine Filme nicht, sondern präsentierte sein Material immer wieder anders, mit unterschiedlichen musikalischen Begleitsets und Aufführungssituationen. Die Filmvorführungen, die meist in seiner Wohnung stattfanden, lassen sich zwischen Expanded Cinema und intermedialer Performance verorten. Dabei ließ er das Publikum auch mal stundenlang warten (bis die „Richtigen“ gingen) oder sperrte es ein.
Sein Repertoire an Slides und Footage präsentierte er unter wechselnden Namen, wie Travelogue of Atlantis, Sacred Landlordism of Lucky Paradise oder The Horror of the Rented World.
Aufgrund der Zurückhaltung (und teilweise Zerstörung) seines eigenen Werkes galt Smith lange als einer der einflussreichsten unbekannten Künstler. Man erkennt Elemente seines Schaffens bei so unterschiedlichen Künstler_innen wie John Waters, in Frederico Fellinis karnevalesker Satyricon -Phase oder dem Theater Robert Wilsons und auch als Inspiration für Cindy Sherman und Ryan Trecartin wird er mitunter genannt. Smith inspirierte die Cockettes (um die es im letztenTeilging), und Charles Ludlam nannte ihn bekanntlich „daddy of us all“3.
Auch zum deutschsprachigen Raum gibt es Bezüge, allen voran zum wunder- und kuriositätenreichen Autorinnenkino Ulrike Ottingers. Voilà, ein kleiner Wien Bezug: Sogar in Ottingers Dokumentation „Prater“ (2007) meint man eine gewisse stilistische Verwandtschaft erkennen zu können, wenn Ottinger ihren staunenden und taktilen Regie-Blick über die Figuren und verdichteten Welten des Wiener Wurstelpraters legt.
Jack Smith. As featured in Jack Smith and the Destruction of Atlantis (2006)- a film by Mary Jordan.
Wie so viele seiner Kolleg_innen, zahlreiche Mitglieder des Theatre of The Ridiculous, der Factory und der Cockettes, verstarb Jack Smith in den 80er Jahren im Zuge der AIDS Epidemie, mit der, wie es scheint, eine ganze Welt starb.
1964 nannte Susan Sontag das Kino von Smith „a feast for open eyes – deutsch: ein Festmahl für geöffnete (oder wohl besser: zugeneigte, empfängliche) Augen. Im selben Jahr entstanden auch ihre Notes On Camp. Ein Jahr darauf drehte Andy Wahol mit „Camp“ eine Hommage an Sontags Text, in der Jack Smith und Mario Montez (siehe Kasten), dessen Namen heute am wenigsten geläufig ist, mitspielten.
Mario Montez wurde 1935 als René Rivera in Puerto Rico geboren und wuchs in New Yorks Harlem auf. Als Drag Queen und Diva war Montez eine zentrale Figur der New Yorker queeren Kunstwelt. Der ausgebildete Grafikdesigner, der recht katholisch gewesen sein soll, spielte in einigen von Andy Warhols bekanntesten Filmen wie Mario Banana und Screentest Nr.2 mit, war Mitbegründer des Theatre oft the Ridiculous und hatte auch im filmischen Werk von Jack Smith eine zentrale Rolle. Seine nicht so schmeichelhafte Sicht seiner Zeit in der Factory kann man hier nachlesen. Man kennt Montez heute wenig, obwohl seine Improvisationsskills vor der Kamera und sein Impromptu Charisma „Ressource“ bekannterer Künstler waren.
Marios Einflusskreise beschränken sich nicht auf Nordamerika. Es gibt auch eine interessante Verbindung zur brasilianischen Tropicália Bewegung bzw. ihrem wichtigen offen homosexuellen Vertreter Hélio Oiticica, dessen 1967 in Rio de Janeiro ausgestelltes Werk “Tropicália” der Bewegung ihren Namen gab. Das Werk nahm ironisch auf Stereotype von Brasilien als tropisches Paradies Bezug. Neben der Thematik des Fremdblicks und der Außenrezeption befasste sich Tropicália auch mit Fragen der Authentizität und Gegen-Aneignung. Die brasilianische Queen of Samba Carmen Miranda, die später in Hollywood Filmen wahnwitzige over-the-top Darstellungen der „exotischen“ Migrantin performte, war sowohl Tropicália als auch Camp Symbol. In seinem selbstgewählten New York Exil, weg von der rechten brasilianischen Militärdiktatur, erkannte Oiticica in Mario Montez und Jack Smith eine künstlerische Komplizenschaft. Er fusionierte “Tropicália” und „Camp“ daher in seinem nach Montez benannten Text „Mario Montez, tropicamp“ (1971).
Neben ihrem Working Class Hintergrund, ihrer Sexualität und ihrer queer-schöpferischen Faszination für Segmente der Popularkultur, haben Jack Smith und Andy Warhol noch eine Gemeinsamkeit. Einerseits lassen sich ihrer beider Karrieren durchaus in einer „alten“ Erzählung weißer, männlicher (wenngleich schwuler) „Genies“ oder Regie-Persönlichkeiten betrachten. Kunstnahe Gruppenexperimente, die „genialen“ Männern unterstanden– inklusive fragwürdiges „transgressives Ausreizen von Grenzen“, gab es ja seit den 60er Jahren nicht wenige. (Wobei Warhol den Aspekt der Grenzüberschreitung Ronald Tavel überlies)4. Andererseits, stehen Smith und Warhol aber auch für die Auflösung von und Flucht vor einem bestimmten Künstlerbegriff. Bei Smith führte dieser Aspekt bis zur physischen Zerstörung des eigenen Werkes. Warhol wiederum bezeichnete sich als „deeply superficial“, sprach von „Fabriksarbeit“, stellte Fabrikationen von Originalität und Fame aus bzw. in Frage. In öffentlichen Auftritten peformte er gerne eine an Blödheit grenzende (und doch sehr charmante) naive Lakonik. Auch arbeiteten Warhol und Smith mit „lächerlichen“ kulturellen Referenzen abseits des Kunstkanons und ihren queer-campy kodierten Erfahrungen mit diesen.
Ich hoffe, mit diesem kleinen Einblick in queere US Avantgarden, einen erweiterten Blick auf Sontags „Camp Sensibility“, ihre Entstehungskontexte und kulturellen Netze geboten zu haben. In diesem Zusammenhang scheint es mir wichtig, nochmal auf den von allen in dieser Reihe besprochenen Kunst Settings geteilten transformierenden Blick auf Hollywood, Glitz und Glamour hinzuweisen. Der sterilen, berechenbaren, erfahrungsarm und fetischhaft verhärteten Konzeption des Glamourösen und Wertvollen setzt zum Beispiel Jack Smith einen dynamischen Camp Glamour entgegen– einen Glamour, der Überraschendes, Verfehlung und Bad Acting miteinschließt. Mehr über die Macht „schrecklichen Schauspiels“ und die queere Kunst des Scheiterns folgt im vierten Teil der Camp Sensibility Reihe.
Literatur:
1. J. Hoberman: „Treasures of the mummy’s tomb: The lost films of Jack Smith“. In: Film Comment Nov./Dez. 1997.
2 Juliane Rebentisch spricht über eine „Dialektik aus Glamour und Verfall“ in : „Über eine materialistische Seite von Camp. Naturgeschichte bei Jack Smith“. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 1, 2013
3 Charles Ludlams Zitat auf dem Cover von: Wait for Me at the Bottom of the Pool: The Writings of Jack Smith. Hg. J. Hoberman et al. 1997
4 Ronald Tavel, teilte die Rüpelei mit seinem Theatre of the Ridiculous Kollegen John Vaccaro, und quälte Mario Montez im berüchtigt sadistischen Screentest Nr. 2 mit immer unzumutbareren Regie-Anweisung.
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Dominic Johnson: Glorious catastrophe. Jack Smith, performance and visual culture. 2012. Manchaster University Press.
Die aktuelle Schwerpunktreihe skizziert, wie sich Camp von einer queeren Performance-Praxis zu einer neuen popularen „Sensibility“ (S. Sontag) entwickelte. Unwillkürlichkeit, Scheitern und produktive Verfehlungen spielen bei diesem Rezeptions- und Gestaltungsmodus eine große Rolle. Teil 4 ist daher dem Lob der „Bad Perfomances“ – unter anderen durch Jack Smith und Andy Warhol – gewidmet. Durch die letzten beiden Teile der Camp Sensibility-Serie spukt außerdem das Phantom einer 40er Jahre Technicolor Diva, eine neue popkulturelle Lust auf Trash erwacht und „Camp“ wird von einem in Bars geflüsterten Idiom zum Theorie-Gegenstand.
Am Beginn dieser Reihe stand die Einführung der (Film-) Diva ins Camp Repertoire im frühen 21. Jahrhundert. Die Diva ist weder ganz Darstellerin noch Selbstdarstellerin1 und stellt so eine Intervention ins klassische Star- und Repräsentationssystem dar. Ihre paradoxe „authentische Artifizialität“ lässt mitunter unsichtbare Darstellungskonventionen und Mediensysteme in Erscheinung treten. Exzess, sowie Unter- und Überbietung von Produktionsstandards sind weitere Elemente, die die Figur Diva für die queere Camp-Rezeption so interessant machen. Der aktuelle Teil der Reihe sei dem Aspekt der „Unterbietung“ gewidmet!
Camp affine Subkulturen begannen früh, “gescheiterte” Darstellungen sowie eigenwillige stilistische „Verfehlungen“ für neue Perspektiven nutzbar zu machen. Ungewollte Störungsmomente und Risse in der Narration konnten insbesondere in der homogenen Massenmedienlandschaft zur Mitte des 20. Jahrhunderts Möglichkeitsräume für neue Erzählungen und Identifikation öffnen. Unter diesem Gesichtspunkt mag es wenig überraschend sein, dass einer der frühesten Texte, in dem sich so etwas wie eine Camp-Sensibility artikuliert, einer B-Movie Darstellerin gewidmet ist, die einst im Verruf stand die schlechteste Schauspielerin Hollywoods zu sein.
Glamourous Rapture, Glittering Trash
Jack Smiths manifest-artiger Essay „The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez“ (1962), der spätere Camp und Trash Theorien antizipierte, wurde auf diesen Seiten bereits flüchtig erwähnt. Doch wer war eigentlich die heute wenig bekannte 40er Jahre Diva Maria Montez und worin bestand ihre von Smith beschworene „perfekte filmische Eignung“?
Cobra Woman, 1944. Universal Pictures.
Maria Montez wurde zur Zeit des zweiten Weltkriegs als Hauptdarstellerin in eskapistischen US Low Budget-Fantasy- und Abenteuerfilmen bekannt. Den Titel „Queen of Technicolor“ verdankt sie dem Farbverfahren, das diesen Filmen ihre saturierten, kräftigen Farben verlieh. Bar jeder Scheu vor Stereotypen castete Hollywood die dominikanische Schauspielerin mit dem spanischen Akzent ausschließlich in exotistischen Streifen, die in einem ahistorischen, unspezifischen „Elsewhere“ angesiedelt sind. Die an Abenteuercartoons angelehnten Plots dieser Filme schleppen sich meist flach und träge dahin. Visuell zeichnet insbesondere Cobra Woman (1944) eine sinnliche Opulenz aus, wie sie von westlichen Künsten aller Art häufig in einen imaginierten Global South projiziert werden.
Oben: Maria Montez in ihrem ikonischen Film Cobra Woman, wo sie eine Doppelrolle (Good Twin/Evil Twin) spielt. Geografisch weit auseinander liegende Referenzen werden hier wie austauschbare Variablen zu einem von Projektionen durchdrungenen „Exotic Punch“ verrührt.
Das Schauspiel von Maria Montez hebt sich mitunter auf eigensinnige Weise von den stumpfen Plots ab. Es ist „akward“, merkwürdig, plump. Ein Beispiel dafür ist die berühmte Szene in Cobra Woman, wo sie hölzern die Zeile „Give me that cobra jewel!“ deklamiert. Manchmal agiert sie „zu wenig“ oder affektlos. An anderen Stellen ist ihr Spiel übermäßig energisch, frantic. Wenn sie als Schlangenpriesterin beherzt mit den Armen in der Luft herumwirbelt und dabei bei ihren Untertan_innen eine Massenpanik auslösen soll, entwickelt die Szene allzu schnell eine unfreiwillige Komik.
Maria Montez inSiren of Atlantis, 1949. United Artists.
Für ihr Schauspiel und privates Image (siehe Tafel unten) wurde Montez von der Kritik verhöhnt. Doch, wie Susan Sontag über die Camp-Rezeption schreibt, “it relishes rather than judges, the little triumphs and awkward intensities of ‘character’”. Für Montez-Verehrer Jack Smith war es wohl überhaupt erst die „akward intesity“ von Montez Schauspiel, die den faden Plots und Gipskulissen Leben und Fantasie einhauchte:
„The vast machinery of a movie company worked overtime to make her vision into sets. They achieved only inept approximations. But one of her atrocious acting sighs suffused a thousand tons of dead plaster with imaginative life and truth.“
Jack Smith.
The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez.
Erst durch das “scheußliche Schauspiel“, wie Smith es nennt, dringt eine andere Erzählung in die Filme ein und der tote Gips öffnet sich für widerständige Bedeutung.
„To admit of Maria Montez validities would be to turn on to moldiness, glamorous rapture, schizophrenic delight, hopeless naiveté, and glittering technicolored trash!”
Jack Smith. The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez
Maria Montez. 1912 – 1951
Trotz der offensichtlichen Mängel und stereotypen Plots der Filme, in denen sie wirkte, wurde Maria Montez, die sowohl privat als auch als Schauspielerin als exzentrisch galt, zur Identifikationsfigur für marginalisierte Personen. Für viele Menschen der (sonst in den USA medial wenig repräsentierten) dominikanischen Republik wurde sie zur Nationalikone. Vor allem aber wurde sie von männlichen Homosexuellen gefeiert. Schon Jahrzehnte nach ihrem Tod huldigten ihr neben Jack Smith und Mario Montez auch Charles Ludlam und Gore Vidal in künstlerischen Werken.
Maria Montez verließ die dominikanische Republik in jungen Jahren und versuchte bald ohne einschlägige Kontakte in Hollywood Fuß zu fassen. Sie gilt als einer der frühen PR-bewussten Stars, da sie den Klatsch der Hollywoodpresse im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie zum eigenen Vorteil zu nutzen wussten. Wie viele weibliche Stars sah Montez sich mit der heuchlerischen Mischung aus moralischer Entrüstung und ausbeuterischem Sensationalismus konfrontieret, die die Medien sogenannten “Sex Symbolen“ entgegenbrachten. Montez versuchte mit virtuosen Self Promotion Stunts, wie z.B durch einen Überraschungsauftritt bei einem Freshman Dance im elitären Harvard, das Interesse der Boulevardpresse zum eigenen Vorteil zu nutzen. Bald aber ermüdete sie an ihrem Image als „exotic Bombshell“ und litt unter dem eingeschränkten Rollenangebot in exotistischen Filmen. Es wäre vermessen, diese interessante Schauspielerin, die nach einer Selbstbestimmtheit innerhalb der Hollywood-Zurichtungsmaschine suchte, auf einen Camp Witz oder eine „moldy“ (J. Smith) Projektionsfläche zu reduzieren, zumal Jack Smiths Text auch nicht frei von problematischen Zuschreibungen ist. Am Ende ihres Lebens kämpfte Maria Montez mit Universal um bessere Rollen und äußerte ihren Wunsch, nie mehr als „exotische Prinzessin“ gecastet zu werden. Anschließend ging sie nach Frankreich, wo sie zum Theater wechseln wollte. Dort führte 1951 wahrscheinlich eine exzessive Diät zu ihrem frühen Tod mit 39 Jahren.
Jack Smith schreibt in seinem kuriosen Text über Maria Montez zugespitzt: Das Publikum, das in Maria Montez nur eine „schlechte Schauspielerin“ sieht, habe die Magie verpasst. Denn dieses Publikum würde nur eine Art von Magie als „gelungene Performance“ anerkennen – die Magie einer effizient operierenden Maschine; „a magic of sustained efficient operation (like the wonder that the car motor held out so well after a long trip).“
„Wretch actress, pathetic as actress, why insist upon her being an actress – why limit her?”
Jack Smith. The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez
Jack Smiths 1962 verschriftlichtes Unbehagen gegenüber „good performances“ oder „good perfs“ wie er es nannte, muss auch in Anbetracht einer repressiven Medien- und Kulturlandschaft verstanden werden. Einen ähnlichen Skeptizismus gegenüber gängigen schauspielerischen Darstellungs- und Repräsentationsformen teilte auch von Andy Warhol in diversen Texten und Tagebuch-Aufzeichnungen. Wie Smith fand auch Warhol die interessanten, reicheren ästhetischen Erfahrungen nicht in den konventionellen Endprodukten, die die Traumfabrik als „efficient machine“ hervorbrachte. Er fand solche Erfahrungen viel mehr in kulturindustriellen Neben- und Abfallprodukten, wie Screentests Take Outs, und Leftovers.
Leftovers, Outtakes und Frauen, die nicht springen.
In der Textsammlung The Philosophy of Andy Warhol. From A to B and Back Again (1974) spekuliert Warhol über die „Leftovers“ der von Busby Berkeley choreografierten MGM Musical-Produktionen mit Schauspielerin/Schwimmerin Esther Williams. Man muss Zitat und warholschen Stil hier in voller Gänze wiedergeben:
I always like to work on leftovers, doing the leftover things. Things that were discarded, that everybody knew were no good, I always thought had a great potential to be funny. When I see an old Esther Williams movie and a hundred girls are jumping off their swings, I think of what the auditions must have been like and about all the takes where maybe one girl didn’t have the nerve to jump when she was supposed to, and I think about her left over on the swing. So that take of the scene was a leftover on the editing-room floor—an out–take—and the girl was probably a leftover at that point—she was probably fired— so the whole scene is much funnier than the real scene where everything went right, and the girl who didn’t jump is the star of the out-take.2
„The girl who didn’t jump is the star of the out-take”
Andy Warhol
Bathing Beauty, 1944. MGM.
Choreografie von Busby Berkeley aus Footlight Parade (1933).
Uniforme Frauenkörper, die sich in perfekter Synchronität zu Massenornamenten verbinden sind typisch für den Stil des Hollywood Choreografen Busby Berkeley. Was Andy Warhol an Berkeleys traumartigen Filmsequenzen jedoch am meisten bewegte, war die Vorstellung der „Überbleibsel“ des akribischen Produktionsprozesses.
Natürlich stehen Warhol und Smith mit vielen der bisher hier festgehaltenen Beobachtungen tendenziell nicht alleine. Leicht ließen sich die Einwände gegen gängige Schauspielkonventionen sowohl in der Genealogie älterer Theateravantgarden des 21. Jahrhunderts, als auch in Verbindung zu zeitgleich stattfindenden Tanz- und Theaterexperimenten der 60er und der sich gerade etablierende Performance Art situieren. Hoch interessant und auch relativ einmalig ist jedoch, dass Smith, Warhol und andere Proto-Camp/Trash Artists produktive Irritationsmomente und überraschende Irregularität nicht als Alleinstellungsmerkmal der Kunstproduktion (plus verknüpften Konzepten von transgressivem Genie und naiv-vereinfachender Unmittelbarkeits-Romantik) verstanden. Viel mehr richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf die unbeabsichtigten Exzentritäten an den Rändern massenproduzierter kulturindustrieller Fantasien. Auch beschreiben sie subjektive deviante Erlebnisweisen von Filmen und Stars, die jedoch von vielen geteilt werden.
Nun ließe sich argumentieren, dass in den Film-Attraktionen, die Warhol und Smith ab den 60ern beschreiben, eine Reihe neuerer und heute sehr viel geläufigerer kultureller Phänomene bereits schemenhaft angelegt sind. So erinnert beispielsweise Warhols strauchelnde, spontan vom Mut verlassene Berkeley-Tänzerin an die schrillen Authentizitäts-Effekte und Erregungszustände, wie sie seit einiger Zeit bewusst im Reality-TV provoziert und konsumierbar gemacht werden. Ebenso mag man an das Abscannen, Konservieren und Weiterbearbeiten „ikonischer“ und ihrem ursprünglichen Kontext enthobener singulärer Momente in Memes, Gifs, usw. denken. Vielleicht fühlt man sich auch erinnert an diverse über TV- und Social-Media-Kanäle verbreitete Bloopers, Pranks, und ähnlich unsouveräne Momente (Hinfallen, Versprechen, usw.), die Zerstreuung zwischen relatable Peinlichkeit, Schadenfreude und Fremdschämen versprechen. Ebenfalls ließen sich Smiths „scheußlich gespielte“ Montez-Seufzer und Warhols „schlechte Performances“ als typische selbst-reflexive Verfremdungs- und Desillusionierungseffekte ironischer Künste interpretieren.
Was aber würde ein spezifisches Camp Reading von „Bad Acting“ von all den genannten Zugängen unterscheiden? Was könnte die Camp Sensibility als neuen Rezeptionsmodus im Umgang mit Massenmedien zur Mitte des 21. Jahrhundert ausgezeichnet haben?
Zum einen lässt sich — bei Smiths Montez-Verehrung vielleicht noch deutlicher als bei Warhols nonchalantem Amüsement — eine eigenartige Zuneigung und Bindung zum Camp-Gegenstand feststellen. Wo viele andere kulturelle Produkte, die Spuren ihres Produktionsprozesses entweder zu verbergen suchen oder als selbst-reflexives Kunstprojekt ausstellen wollen, entwickelt Camp eine eigene „attitude toward the participation of the producers past and present”3, die von einer oft beobachteten Sympathie getragen ist. Auch Susan Sontag, die Camp sonst ja bekanntlich als cool, ironisch und „disengaged“ bezeichnet, bemerkt diese eigenwillige „Zärtlichkeit“: „Camp taste is a kind of love, love for human nature. It relishes rather than judges, the little triumphs and awkward intensities of character”. Und weiter heißt es:
„Camp taste identifies with what it is enjoying. People who share this sensibility are not laughing at the thing they label as “a camp”, they’re enjoying it. Camp is a tender feeling.“ 4
In dieser Identifikation zeigt sich vielleicht ein weiteres Spezifikum einer Camp-Haltung zu Bad Acting und Bad Taste. Anstatt zu fragen: Wer ist so blöd das gut zu finden“, sagt die Camp-Rezeption „What if the right audience for this were exactly me?“5 (Sedgwick, 1997).
Taking the Terror out of Error.
Am Beginn dieser Reihe stand ein Marlene Dietrich-Darsteller, den Christopher Isherwood als „low camp“ deklassierte. Viele Jahrzehnte später hat die Drag Praxis der Diven-Imitation durch die Serie RuPaul’sDrag Race heute ein größeres Publikum erreicht als je zuvor. Auch Drag Queen Jinkx Monsoon fand durch die TV Show zu Ruhm. Im zarten Alter von 25 perfektionierte Monsoon bereits ein großes Repertoire antiquierter Diven, von Bettie Davis bis zu Jackie Kennedys exaltierter Cousine Little Edie. Deren eigenwillige Manierismen möchte sie laut eigenen Angaben durch Verkörperung am Leben halten „als wären es die Bücher in Fahrenheit 451“. Ihre Herangehensweise zur Diven-Darstellung beschreibt sie in einem Interview mit dem British Film Institute so:
“The hard balance of impersonation is you have to love that person, you have to really have some fondness and visceral attraction to that person, you have to have some kind of loving homage or tribute to that person in your impersonation. But you also can’t revere them so much that you’re unable to see what’s funny about that person.”
Im Werk der Queer-Studies Koriphäe Eve Kosofsky Sedgwick taucht Camp immer wieder als zentraler Beobachtungs- und Anschauungsgegenstand auf – so auch bei ihren Überlegungen in dem Essay Paranoid Reading and Reparative Reading. Or; You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You. Darin schreibt sie 1997 über die Dominanz einer bestimmten Perspektive im kritischen Diskurs, die sie als paranoides Paradigma bezeichnet. Diese Perspektive legt großes Vertrauen in das Aufdecken, Entlarven und Offenlegen gesellschaftsprägender ideologischer Strukturen als transformative Kraft. Diese Art queerer Analyse erschließt sich eine tatsächlich feindselige Welt über den Weg einer „smartness that smarts“ (Sedgewick nach dem Psychoanalytiker Joseph Litvak). Eine queere Rezeptionspraxis wie Camp kann jedoch auch andere Perspektiven und Funktionen bereitstellen. Ein queeres Reading könne nämlich, laut Sedgewick, beispielsweise die (für sexuell marginalisierte oder gender-nonkonforme Subjekte besonders tiefgreifende) traumatische Verbindung von vermeintlichen Fehlern und darauf folgende Demütigungen auflockern.
„Doesn’t reading queer mean learning, among other things, that mistakes can be good rather than bad surprises?”
E. K. Sedgwick nach J. Spivak
Das Verhältnis von kritischer Offenlegung verdeckter Strukturen, Genderkonventionen usw. und der Affirmation erkenntnisbringender und richtungsweisender „Errors“ mag bei Camp letztendlich ein dialektisches sein. Wahr ist allemal, dass der Camp Blick sich bei allem tongue-in-cheek Humor oft schützend und bewahrend auf bestimmte undisziplinierte Irregularitäten richtet. Den „erratischen“ Gesten, stilistischen Formen, persönlichen Eigenheiten wird auf eine Weise gehuldigt, die nicht nach den Logiken üblicher subjektivierender Anerkennungsinstanzen – Fame, (hetero)sexuelles Begehren, Erfolg – funktioniert. (Anders als oft von Kritiker_innen wie Befürworter_innen behauptet wird, gilt im heutigen ideologischen Individualismus das Individuum als Konglomerat singulärer Eigenschaften, unwillkürlicher Ausdrucksweisen usw. nicht als prinzipiell der solidarischen Zuwendung, Fürsorge und Grundrechte würdig. Vielmehr muss Individualität erst permanent durch Wertschöpfung erarbeitet, durchgesetzt und gegen Andere verteidigt werden.)
Seit Sedgwick haben sich auch andere Theoretiker_innen für eine „Queer Art of Failure“6 als Ausweg aus normativen „Glücksversprechen“7 und repressiven Erzählungen des Gelingens und der Kohäsion stark gemacht. Und zwar insbesondere dort, wo Subjekten ständig die immergleichen Ideale von Nuklearfamilie, Heteroromantik, und kapitalistischem Streben als Telos aufgezwungen werden.
An dieser Stelle sei an den britischen gendernonkonformen Autor und Performer Quentin Crisp erinnert. Als wahrscheinlich eine der ersten offen homosexuellen, flamboyanten Medienpersönlichkeiten, prägte er das Bild von queerem Style in der Öffentlichkeit lange wie kein anderer. Allen Anfeindungen und Schikanen zum Trotz und unter Verzicht auf Sicherheit und Comfort ging er mit einer fast aberwitzigen Beharrlichkeit seit den 30er Jahren mit lila Haaren, Make-Up und „effeminate style“ auf den Straßen Englands spazieren. In seiner Autobiografie heißt es dazu: “From that moment on, my friends were anyone who could put up with the disgrace; my occupation, any job from which I was not given the sack; my playground, any café or restaurant from which I was not barred or any street corner from which the police did not move me on.“ Eines seiner wohl berühmtesten Zitate lautete: “If at first you don’t succeed, failure may be your style”. How very camp!
Quentin Crisp. Foto: Marjory Dressler
“If at first you don’t succeed, failure may be your style”.
Quentin Crisp
Der letzte Teil der Camp Sensibility Reihe erscheint demnächst und handelt von dem Filmkritiker Parker Tyler, Gore Vidals kontroversiellen Roman Myra Breckenridge, Esther Newtons anthropologischer Studie „Mother Camp“ und einer ungewöhnlichen Genealogie der heutigen Gender Studies. Stay tuned!
Literatur:
Crisp, Quentin: The Naked Civil Servant. Penguin.1968.
Smith, Jack: “The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez.” In: Film Manifestos and Global Cinema Cultures. 1962.
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1Vrgl dazu Elisabeth Bronfen und Barbara Straumann: Die Diva: Eine Geschichte der Bewunderung: Celebrity Culture im 20 Jahrhundert. Schirmer Mosel, 2002. S.47.
2 Warhol, Andy: The Philosophy of Andy Warhol. From A to B and Back Again. Harcourt, 1974. S.93.
3Ross, Andrew: „Uses of Camp“. In: Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject: A Reader. Hg.: Fabio Cleto. Edinburgh: Edinburgh University Press, 1999.
4Sontag, Susan. „Notes on Camp.“ In: Against Interpretation and Other Essays. New York: Picador, 1961.
5Sedgwick, Eve Kosofsky. Epistemology of the Closet. Berkeley: University of California Press, 1990.
6 Halberstam, Jack: The Queer Art of Failure. Duke University Press, 2011.
7Ahmed, Sara: The Promise of Happiness.Duke University Press, 2010.